Bryce Dessner (Foto: Shervin Lainez)
Creative Chair 2023/24

Bryce Dessner

Komponist, Gitarrist / *1976 Cincinnati, Ohio

Berühmt wurde der Amerikaner Bryce Dessner als Gitarrist der Indie-Rock-Band The National, aber längst ist er auch als Komponist anerkannt. In dieser Saison wird er als Creative Chair ganz unterschiedliche Facetten seines Schaffens vorstellen.

Hier stellt er sich erst einmal selbst vor – mit einem Fragebogen, der auf den legendären Vorlagen von Marcel Proust und Max Frisch basiert. Sie vereinen wichtige und vermeintlich unwichtige Fragen spielerisch und geben so Einblick in die Persönlichkeit. Wir haben eine Auswahl davon um Fragen zur Musik ergänzt.

Wo würden Sie gerne leben?

Ich wohne an einem wirklich schönen Ort: in der baskischen Region von Frankreich, in der Nähe von San Sebastian, Spanien, am Rande der Berge. Und ich bin in Ohio aufgewachsen, in einer sehr langweiligen Landschaft. Es ist flach und nicht sehr ansprechend. Ich habe also eine sehr niedrige Erwartung, sodass ich überall leben kann. Manche Menschen brauchen die Berge oder das Meer. Ich habe diese Dinge nie gebraucht, aber irgendwie hat es mich hierher gezogen. Jetzt lebe ich direkt an einem Berg, und ich starre die meiste Zeit auf diesen Berg – das ist sehr schön. Ich finde die Berge sehr friedlich, ja, ich bin sehr glücklich, hier zu leben.

Welche Fehler würden Sie am ehesten entschuldigen?

Fehler zu machen ist ein wesentlicher Teil des Lebens. Und ich hatte das Glück, dass ich in meinem Leben Fehler gemacht und daraus gelernt habe. Wenn mein Sohn – er ist sechs Jahre alt –, Fehler macht, dann finde ich das gut, denn so lernen wir. Das ist etwas sehr Menschliches. Aber ich denke, es geht nicht darum, Fehler zu machen. Es geht darum, was wir danach machen, wie wir aus ihnen lernen. Wie sagt man: «Entschuldigung.» Das ist wichtig.

Ihre liebsten Romanhelden?

Ich denke etwa an Odysseus, diese Art von epischen Helden. Seine Prüfungen und Mühen sind so mythisch. Und natürlich ist damit auch diese Idee des epischen Gedichts gemeint, das die Grundlage für so viele andere Geschichten und Literatur ist.

Ihre Lieblingsfigur in der Geschichte?

Es gibt verschiedene Figuren in der Geschichte, die mich sehr inspiriert haben: Jemand wie Gandhi, Martin Luther King, der grosse buddhistische Gelehrte Milarepa. Sie haben alle den gleichen Mut, die gleiche Tapferkeit und Gewaltlosigkeit im Angesicht grosser Ungerechtigkeit. In gewisser Weise sind sie eine Art von Versionen der gleichen Art von Menschen, die immer wieder ein Licht in die richtige Richtung werfen. Die Arbeit, die sie für andere geleistet haben, ist unglaublich.

Ihr Lieblingsdesigner?

Es gibt tatsächlich einen: der holländische Innenarchitekt namens Axel Vervoordt. Er ist sehr minimalistisch. Alles basiert auf Natürlichkeit, Holz und Dingen aus der Erde. Und er ist sehr von der östlichen Philosophie beeinflusst. Er entwirft architektonische Räume, Innenräume, aber es fühlt sich an wie Kunst. Wenn man in diesen Räumen ist, hat das etwas sehr Kraftvolles.

Ihre wichtigste Charaktereigenschaft?

Ich glaube, ich bin ein geduldiger Mensch.

Ihre Lieblingsblume?

Ich habe zwei riesige Mimosenbäume und die blühen im Februar. Leuchtend gelb. Die mag ich sehr. Ich habe auch einen Magnolienbaum, und ich liebe die Magnolienblüte. Also diese beiden.

Welche natürliche Gabe würden Sie gerne besitzen?

Ich habe grossen Respekt vor Menschen, die gut Entscheidungen treffen können. Ich bin nicht der beste Entscheidungsträger, also wäre das etwas, was ich gerne entwickeln würde.

Hätten Sie gerne ein absolutes Gedächtnis?

Ja und nein. In letzter Zeit kommen mir alte Erinnerungen wieder in den Sinn – fast so, als wären sie irgendwo gespeichert und würden hochkommen. Aber ich bin auch froh, dass ich mich nicht an alles erinnern kann.

Wie alt würden Sie gerne werden?

Ich bin ein bisschen alt Vater geworden. Mein Sohn ist jetzt sechs Jahre alt. Und ich würde gerne sehr alt werden, um so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen.

Reisen Sie gerne?

Ich liebe es zu reisen. Ich liebe es, mich in der Welt zu verlieren. Ich sehne mich nach der Zeit, als es noch keine Handys gab und ich mit 20 Jahren nach Italien fuhr und niemand wusste, wo ich war. Ich glaube, das ist eine Art verlorene Schönheit in der Welt, obwohl es Möglichkeiten gibt, sie wiederherzustellen. Und das Reisen ist auch ein Grund, warum ich so gerne Musik mache: Ich treffe Musiker*innen aus verschiedenen Kulturen und Zuhörer*innen aus verschiedenen Ländern. Es geht darum, eine Verbindung mit Menschen aus aller Welt zu haben.

Was machen Sie, wenn Sie reisen?

Auf Reisen gehe ich direkt nach dem Aufstehen laufen. Das ist eine wirklich gute Möglichkeit, einen Ort schnell zu entdecken. Und wenn es einen Fluss gibt, laufe ich oft am Fluss entlang. Flüsse sind schön, und historisch gesehen wurden Städte häufig um den Fluss herum errichtet. Das ist meist ein guter Ausgangspunkt, um eine Stadt zu entdecken. Dann versuche ich, ein gutes Café zu finden, weil das ein Treffpunkt ist und man ein Gefühl für die Stadt bekommt. Ausserdem schaue ich, ob es ein interessantes Museum für bildende Kunst gibt, das ich mir ansehen kann. Wenn man so viel reist und nur für kurze Zeit dort ist, wird man ziemlich gut darin – fast schon effizient (lacht). Aber es ist schön, wieder neue Orte zu entdecken. Ich war schon ein paar Mal in Zürich, aber ich bin sehr neugierig darauf, mehr über diesen Ort zu erfahren.

Lassen Sie uns über Musik Sprechen. Üben Sie gerne?

Die Flöte war mein erstes Instrument und ich wurde als Kind ziemlich gut darauf. Dann bin ich zur klassischen Gitarre gewechselt und habe das entsprechende Repertoire studiert. Ironischerweise finde ich mich heute oft in Situationen wieder, in denen Virtuosität nicht unbedingt der primäre Zweck oder das Ziel ist. Es geht darum, die richtigen Noten zu finden, nicht die schnellsten oder die am besten gespielten Noten. Ich übe gerne für mich selbst. Ich improvisiere gerne.

Aber ich bin zum Glück nicht so oft in Situationen, in denen ich sehr schwierige Musik aufführen muss. Aber ich habe grossen Respekt vor Musiker*innen, die das müssen und deswegen viel üben. Das ist auch der Grund, warum ich so gerne für Orchester, für Streichquartett und für herausragende Solist*innen komponiere. Denn es ist eine wunderbare Sache, mit Musiker*innen zu arbeiten, die ihr Leben damit verbringen, das, was sie tun, zu perfektionieren, und ich würde mich nicht auf ihr Niveau begeben.

Ihr klassisches Schlüsselwerk?

«The Rite of Spring» («Le Sacre du Printemps») von Strawinsky ist ein Stück, das mich verändert hat. «Music for 18 Musicians» von Steve Reich hat mich ebenfalls beeinflusst. Und ich denke, die Musik von Bach ist für alles grundlegend. Das gilt auch für Pérotin, den französischen Komponisten des 12. Jahrhunderts. Und Nina Simone, die amerikanische Sängerin, ist meiner Meinung nach eine*r der grössten Künstler*innen, die je gelebt haben.

Wie würden Sie Ihr Instrument beschreiben?

Mein Instrument nimmt viele Formen an, denn ich schreibe gerne für Orchester, das ein riesiges Instrument ist. Ich schreibe auch gerne für Orgel, für Harfe oder für Kinderchöre. Das Instrument, das ich am liebsten spiele, ist die Gitarre. Aber wie ich sie benutze, entspricht eher der Art und Weise, wie ich für Orchester schreibe: Ich betrachte sie eher als Klangfarbe, als Textur und schaffe Überlagerungen. Ich mag das Gefühl von Vielfältigkeit und Pluralität in der Musik, wo man eine Art von Weite spüren kann, die vielleicht am ehesten mit der Natur vergleichbar ist. Wenn man auf das Meer oder auf die Berge schaut, kann man sowohl eine Einfachheit als auch eine Komplexität erkennen. Das ist der Grund, warum mich zum Beispiel das Orchester wirklich anspricht: wegen all der kreativen Möglichkeiten, die es gibt.

Wie wichtig ist Applaus für Sie?

Jeder mag Beifall. Jeder mag Anerkennung. Als Komponist und Interpret merke ich, wenn ein Stück funktioniert. Manchmal kann Applaus auch oberflächlich sein. Dann ist die langfristige Wirkung eines Stücks nicht so tiefgreifend. Und manchmal gibt es nur ein paar Beifallsbekundungen, aber es ist ein Stück, das bei den Leuten hängen bleibt und an das sie noch zwei Wochen später denken. Ich glaube, im 20. Jahrhundert gab es eine Geschichte von Komponisten, die dachten, Applaus sei nicht gut, denn wenn es den Leuten gefiel, dann war es nicht intellektuell genug. Ich halte das für ein bisschen albern. Es ist schön, wenn die Leute ein Stück geniessen und die Musiker*innen sich gefeiert fühlen. Ich wünschte, die Leute würden mehr applaudieren.

Haben Sie ein Ritual vor einem Konzert?

Ich habe vor einem Konzert gerne meine Gitarre in der Hand oder das Klavier, um einfach ein bisschen zu spielen. Normalerweise esse ich nach einem Konzert zu Abend. Nicht vorher. Ansonsten hängt es von dem Repertoire ab, das gespielt wird, und davon, wie stressig es ist.

Was schätzen Sie an Dirigent*innen oder Interpret*innen?

Ich bereite für die Aufführung eine Partitur vor, aber das ist nicht die Musik. Die Musik ist das, was wir hören und wie die Komposition atmet, durch die Interpret*innen Leben bekommt. Dirigent*innen sind meisterhafte Kommunikator*innen, sie haben ein Gespür dafür, dass sie mit einer kleinen Geste Magie erzeugen können, und gute Interpret*innen können darauf reagieren. Es ist dieser Dialog und dieser Austausch, der so menschlich und so zerbrechlich und so schön ist.

Ich hatte das Glück, in meinem Leben mit einigen unglaublichen Musiker*innen zu arbeiten. Und ich freue mich sehr darauf, mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und mit Paavo Järvi zu arbeiten, den ich als Kind immer gehört habe, weil er der Dirigent des Cincinnati Symphony Orchestra war. Als Teenager habe ich ihn dort gehört. Und nun kann ich in Zürich mit ihm arbeiten.

Wenn Sie einen Fragebogen erstellen würden, welche Frage müsste darin enthalten sein?

Ich glaube, ich würde fragen: Wo ist der Ort, an dem Sie sich am friedlichsten fühlen?

Und was wäre Ihre Antwort?

Auf dem Gipfel eines Berges.

Interview: Ulrike Thiele

In jeder Saison laden wir einen bedeutenden Komponisten oder eine Komponistin als Creative Chair ein. Lassen Sie sich von der Musik unserer Zeit überraschen und berühren. Unsere bisherigen Creative Chairs:

  • Toshio Hosokawa 2022/23, Japan
  • John Adams 2021/22 – USA
  • Arvo Pärt 2020/21 – Estland
  • Erkki-Sven Tüür 2019/20 – Estland
  • Matthias Pintscher 2018/19 – Deutschland/USA
  • Brett Dean 2017/18 – Australien
  • Péter Eötvös 2016/17 – Ungarn
  • Jörg Widmann 2015/16 – Deutschland
  • Esa-Pekka Salonen 2014/15 – Finnland

Konzerte

Erleben Sie Bryce Dessners Musik in folgenden Konzerten. Ausgewählte Konzerte sind auch als Abo Creative Chair buchbar.
Creative Chair unterstützt von Swiss Re

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Juli 2024
Fr 05. Jul
19.30 Uhr

Joana Mallwitz mit Mahler

Tonhalle-Orchester Zürich, Joana Mallwitz Leitung, Pekka Kuusisto Violine Dessner, Mahler
Do 04. Jul
19.30 Uhr

Joana Mallwitz mit Mahler

Tonhalle-Orchester Zürich, Joana Mallwitz Leitung, Pekka Kuusisto Violine Dessner, Mahler
Juni
Do 20. Jun
12.15 Uhr

Kammermusik-Lunchkonzert

Klaidi Sahatçi Violine, George-Cosmin Banica Violine, Gilad Karni Viola, Paul Handschke Violoncello Schostakowitsch, Dessner, Haydn
April
So 14. Apr
17.00 Uhr

Electric Fields: Immersives Konzerterlebnis

Barbara Hannigan Sopran, Katia Labèque Klavier, Marielle Labèque Klavier, David Chalmin live electronics, Bernd Purkrabek light designer, Guillaume Loubère sound engineer "Electric Fields"
Sa 13. Apr
18.30 Uhr

Electric Fields: Immersives Konzerterlebnis

Barbara Hannigan Sopran, Katia Labèque Klavier, Marielle Labèque Klavier, David Chalmin live electronics, Bernd Purkrabek light designer, Guillaume Loubère sound engineer "Electric Fields"
Do 11. Apr
12.15 Uhr

Kammermusik-Lunchkonzert

Isabelle Weilbach-Lambelet Violine, Philipp Wollheim Violine, Katja Fuchs Viola, Katarzyna Kitrasiewicz-Łosiewicz Viola, Paul Handschke Violoncello, Benjamin Nyffenegger Violoncello Dessner, Palestrina, Schönberg
Januar
Di 23. Jan
19.00 Uhr

classic meets art mit Bryce Dessner

Bryce Dessner Komponist, Selma Aerni Violoncello, Raphael Duchosal Gitarre, Bettina Richter Kuratorin Museum für Gestaltung Zürich, Ulrike Thiele Moderation Dessner
Ausgebucht
Mo 22. Jan
15.00 Uhr

Masterclass mit Bryce Dessner

So 21. Jan
11.15 Uhr

Literatur und Musik: Dimitri Stapfer liest Louis

George-Cosmin Banica Violine, Lucija Krišelj Violine, Héctor Cámara Ruiz Viola, Mattia Zappa Violoncello, Dimitri Stapfer Lesung, Bryce Dessner Einführung, Ulrike Thiele Einführung Dessner, Édouard Louis
Fr 19. Jan
19.30 Uhr

Alice Sara Ott spielt Dessner

Tonhalle-Orchester Zürich, Kent Nagano Leitung, Alice Sara Ott Klavier, Mari Eriksmoen Sopran Ives, Dessner, Mahler
Do 18. Jan
19.30 Uhr

Alice Sara Ott spielt Dessner

Tonhalle-Orchester Zürich, Kent Nagano Leitung, Alice Sara Ott Klavier, Mari Eriksmoen Sopran Ives, Dessner, Mahler
Dezember 2023
Fr 15. Dez
19.30 Uhr

Wayne Marshall spielt Gershwin

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Wayne Marshall Klavier und Orgel Dessner, Gershwin, Marshall, Rachmaninow
Do 14. Dez
19.30 Uhr

Wayne Marshall spielt Gershwin

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Wayne Marshall Klavier und Orgel Dessner, Gershwin, Marshall, Rachmaninow
Mi 13. Dez
19.30 Uhr

Wayne Marshall spielt Gershwin

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Wayne Marshall Klavier und Orgel Dessner, Gershwin, Marshall, Rachmaninow
November
So 26. Nov
17.00 Uhr

Simone Young mit Dessner und Strauss

Tonhalle-Orchester Zürich, Simone Young Leitung, Bryce Dessner E-Gitarre, David Chalmin E-Gitarre Strawinsky, Dessner, Strauss
Sa 25. Nov
18.30 Uhr

Simone Young mit Dessner und Strauss

Tonhalle-Orchester Zürich, Simone Young Leitung, Bryce Dessner E-Gitarre, David Chalmin E-Gitarre Strawinsky, Dessner, Strauss
Di 14. Nov
19.00 Uhr

classic meets art

George-Cosmin Banica Violine, Lucija Krišelj Violine, Héctor Cámara Ruiz Viola, Mattia Zappa Violoncello Dessner, Barber
September
Do 21. Sep
12.15 Uhr

Kammermusik-Lunchkonzert

Haika Lübcke Flöte, Diego Baroni Klarinette, Christopher Whiting Violine, Gabriele Ardizzone Violoncello, Elaine Fukunaga Klavier, Christian Hartmann Schlagzeug Dessner, Harbison
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