Iveta Apkalna
Orgel / *1976 Rēzekne
Die Lettin Iveta Apkalna ist Titularorganistin in der Hamburger Elbphilharmonie – und eine überaus fantasievolle Interpretin. In der Saison 2023/24 wird sie die Orgel in der Tonhalle Zürich als Fokus-Künstlerin in ganz unterschiedlichen Programmen ausreizen.
Wer ist sie? Entdecken Sie es im folgenden Fragebogen! Er basiert auf den legendären Vorlagen von Marcel Proust und Max Frisch. Diese vereinen wichtige und vermeintlich unwichtige Fragen spielerisch und geben so Einblick in die Persönlichkeit. Wir haben eine Auswahl davon um Fragen zur Musik ergänzt.
Wo würden Sie gerne leben?
Da, wo die Sonne scheint. Ja, Sonne, das ist am wichtigsten. Ich liebe die Sonne.
Welche Fehler würden Sie am ehesten entschuldigen?
Oh, das hängt natürlich immer von der Situation ab. Ich glaube, ich kann vieles verzeihen. Ich habe in meinem Leben tatsächlich schon vieles vergeben müssen. Das war relativ leicht. Eine Sache, die ich nicht wirklich verzeihen kann, ist Unfairness. Die ärgert mich seit meiner Kindheit, nicht nur bei Dingen, die mir selbst passieren, sondern auch, wenn ich sie irgendwo sehe. Das kann ich nicht verzeihen.
Wer sind Ihre liebsten Romanheld*innen?
Eigentlich war ich nie ein Riesenfan von etwas oder jemandem, also auch nicht in meiner Kindheit oder Jugend. Für mich sind die wahren Held*innen diejenigen, die leise und unauffällig etwas bewirken – auch in der Literatur. Ich mag Romane, die von ganz schlichten und normalen Menschen handeln, wie man sie jeden Tag trifft. Für mich sind wahre Held*innen diejenigen, die das gar nicht so präsentieren. Diese Bücher berühren mich am meisten. Da fällt mir ein, doch, einen Helden kann ich nennen: «Ein Mann namens Ove» von Fredrik Backman. Die Geschichte wurde auch verfilmt. Nachdem ich diesen Roman von Backman gelesen habe, habe ich alle seine Bücher gelesen. Alle handeln von Menschen, die meiner Meinung nach wahre Helden sind.
Wer ist Ihre Lieblingsfigur in der Geschichte?
Naja, ich wurde in meinen jungen Jahren als Organistin mit Jeanne d’Arc verglichen. Leider wurde das wirklich öfter geschrieben, in den ersten Interviews vor fast 20 Jahren. Weil ich so ein bisschen das schwarze Schaf meiner Zunft war. Ich wusste nichts davon und kannte diese Zunft nicht, ich machte die Musik einfach, wie ich sie gefühlt habe. Ich wollte einfach Musik machen und Menschen erreichen – und plötzlich war da dieser Jeanne d’Arc-Vergleich. Für mich ist dieses Thema aber vor allem mit lettischer Geschichte verbunden. Weil wir als kleines Land dennoch viele Held*innen haben. Das, was ich in unserer jüngsten Geschichte gesehen habe, insbesondere in der Zeit, als Lettland am 04. Mai 1990 wieder unabhängig wurde. Für mich sind es diese Figuren, diese wichtigen Persönlichkeiten des Landes, und das waren mehrere, da kann ich nicht eine benennen. Dank dieser Menschen kann ich jetzt mit Ihnen sprechen. Das mag komisch klingen, aber dank ihnen darf ich heute machen, wofür ich brenne und was ich liebe.
Wer ist Ihr Lieblingsdesigner*in/-künstler*in?
Wenn wir Musik betrachten: Ich bin total begeistert von Martha Argerich. Ich bewundere diese Frau. Ich habe ja vorhin gesagt, dass ich wenige Idole hatte und nicht so wirklich Fan von jemandem war – ausser vielleicht von Michael Jackson, dessen Musik ich mir als Kind stundenlang anhören konnte. Aber Martha Argerich ist für mich eine Frau mit Geheimnissen, und das macht sie für mich auch so interessant. Nicht nur im musikalischen Sinne. Es ist für mich nie dasselbe, auch wenn ich mir schon bekannte Aufnahmen von ihr anhöre. Ich höre dabei wirklich immer wieder etwas Neues.
Und ich liebe alles, was Christian Dior kreiert hat. Ich war vor ein paar Jahren in einer Dior-Ausstellung in Paris. Ich hatte noch nie ein Kleidungsstück von ihm und werde auch keines haben, aber ich war in der Ausstellung und dachte: Das ist wahre Kunst. Da war ich wirklich wie ein Kleinkind, ich war sogar mit meiner Mama dort. Und sie hat in dem Moment in mir wieder so ein kleines Mädchen mit grossen Augen gesehen, die sich bei jedem weiteren Raum noch mehr öffneten.
Was ist Ihre wichtigste Charaktereigenschaft?
Ich bin sehr diszipliniert. Manchmal denke ich, das könnte andere auch stören, aber ganz ehrlich: Ich könnte nicht einmal den halben Teil dessen leisten, was ich leisten muss, ohne diese Disziplin. Vor allem, wenn man so viel unterwegs ist. Ich muss mich da bei meiner Mama bedanken, die mir das vorgemacht hat. Sie war auch sehr diszipliniert. Und auch meine beiden Grossmütter, die Lehrerinnen waren, haben mir diese Mentalität weitergegeben. Diese Disziplin habe ich seit meiner Kindheit bis heute. Sie hilft mir, Ordnung im Kopf zu behalten. Ich kann zum Beispiel nicht anfangen, zu üben, wenn um mich herum etwas nicht in Ordnung ist oder stört – egal ob das mein Raum ist, ein Hotelzimmer oder die Tonhalle. Das mag verrückt klingen, aber für mich ist diese Disziplin ganz wichtig.
Was ist Ihre Lieblingsblume?
Meine Lieblingsblume ist Lavendel. Das wissen meine Freunde und auch meine Familie: Wenn ich einmal sterbe, bitte alles mit Lavendel bestücken, wo ich liege.
Welche natürliche Gabe würden Sie gerne besitzen?
Da gibt es natürlich viele. Besonders würde ich mir wünschen, dass ich den Moment vollständig und tiefer geniessen könnte. Ich mache das zwar irgendwie schon, aber ich denke immer viel nach. Und wegen meiner Disziplin bin ich immer schon zwei oder drei Schritte weiter und nicht ganz im Moment. Das ist nicht so angenehm. Man lässt die Gedanken dann nicht immer los. Das wünsche ich mir, wirklich im Jetzt zu leben und zu geniessen. Vollkommen im Moment bin ich übrigens, wenn ich auf der Bühne bin. Dann wenn ich ein Konzert gebe und spiele, dann bin ich nur in diesem Moment und ich geniesse das. Aber ich möchte das gern auch im Leben können.
Hätten Sie gerne ein absolutes Gedächtnis?
Als erstes möchte man sagen: Ja! Es gibt so vieles, was man sich merken möchte. Zum Beispiel, wenn man eine Ausstellung besucht oder ein Buch liest, in dem viele historische Fakten drinstehen. Ich vergesse schon ziemlich vieles. Aber andererseits sage ich: Nein. Ich hätte auch nicht so gerne ein absolutes Gehör. Als Organist*in ist das ein Horror, weil jede Orgel anders gestimmt ist – und das tut dann weh. Ich glaube, ein absolutes Gedächtnis zu haben, würde den Wunsch nach Genuss und Im-Moment-sein von der vorherigen Frage zerstören. Ich kenne ein paar Menschen, die ein absolutes Gedächtnis zu haben scheinen. Und dann frage ich mich: Wieviel müssen die mit sich rumtragen? Zudem muss ich sagen: Das, was wir Organisten alles gleichzeitig leisten und im Kopf behalten müssen, während wir spielen, das ist schon bemerkenswert. Ich glaube, wir besitzen in gewisser Weise ein anderes Gehirn. Würde man forschen, würde man sicher sehen, dass bei uns ein Teil des Gehirns anders ist. Wir können dieses Super-Multitasking, das normalerweise nur junge Mütter lernen, weil sie müssen. Deshalb fiel es mir leicht, als ich Mutter geworden bin. Also gleichzeitig das Kind auf dem Arm halten, dazu parallel eine Fuge von J.S. Bach zu üben und dabei ein Wiegenlied für mein Kind zu singen – das war easy. Da bin ich tatsächlich meinem Instrument dankbar.
Wie alt würden Sie gerne werden?
Oh, ich würde gerne ganz lange leben. Ich weiss, das ist nicht leicht, wenn einem von Gott wirklich dieses Geschenk gegeben wird, möglichst lange auf dieser Erde zu bleiben. Aber trotzdem finde ich, dass diese Qualität vom Leben, die man mit über 90 besitzt, etwas ist, worauf man sich jetzt schon freuen könnte. Das ist aber natürlich schwer vorstellbar. Ich sage das, weil in meiner Familie alle Frauen mütterlicherseits sehr lange gelebt haben. Meine Urgrossmutter ist eine Woche vor ihrem 100. Geburtstag gestorben. Und auch ihre Tochter ist nun 95 Jahre alt. Ich freue mich riesig, mich mit diesen Damen zu unterhalten. Ich denke, es ist schöner, langsam Abschied von diesem Leben auf der Erde zu nehmen.
Reisen Sie gerne?
Ja, sehr gerne. Obwohl ich schon sagen muss, dass die schönste Reise für mich ist, wenn ich nach Hause komme und weiss, dass ich jetzt fünf Tage da sein kann. Weil ich als Musikerin so viel unterwegs bin. Aber ich reise gerne mit meiner Familie, also mit meinen Kindern und meinem Mann. Das ist dann natürlich etwas ganz anderes.
Was machen Sie, wenn Sie reisen?
Ich kann nicht sagen, dass wir als Familie sehr sportlich sind, wir sind eher Naturgeniesser. Zum Beispiel unternehmen wir gerne Fahrradtouren, wenn wir in Italien sind, oder sehr lange Spaziergänge, wenn wir am Meer sind. Ich bin kein Mensch, der gerne zelten geht. Nein, ich brauche Komfort. Nach den Radtouren und Spaziergängen brauche ich ein kuscheliges Bettchen und möchte in der warmen Badewanne sitzen. Was ich aber in den Ferien gerne mache: Ich schalte komplett ab, sodass ich nicht erreichbar bin. Ich konzentriere mich dann ganz auf uns vier. Und dann lese ich auch sehr gerne, denn das fehlt mir im Alltag. Da bin ich immer viel zu müde und schlafe beim Lesen sofort ein. Im Urlaub kann man das wunderbar machen, ob man beim Spazieren eine Pause macht, am Pool liegt oder in einer schönen Ferienwohnung sitzt. In Ruhe abschalten, lesen, sich ein bisschen bewegen und mit meinen Kindern sein, das ist mir wichtig.
Lassen Sie uns über Musik sprechen. Üben Sie gerne?
Ja, eigentlich schon. Und ich wünschte, der Tag hätte mehr als 24 Stunden, denn ich möchte in Ruhe üben. Dank meiner Disziplin bin ich eigentlich sehr gut organisiert, aber ich habe wirklich ein sehr grosses Repertoire. Ich würde aber auch gerne üben, was ich nicht für ein Konzert einstudieren muss, sondern einfach, weil ich jetzt Lust dazu habe. Aber dafür fehlt mir völlig die Zeit. Das habe ich seit einem Jahrzehnt nicht mehr gemacht.
Welches ist Ihr klassisches Schlüsselwerk?
Ich glaube, das ist meine Visitenkarte: Die «Toccata» des lettischen Komponisten Aivars Kalējs über den Choral «Allein Gott in der Höh’ sei Ehr». Das ist wirklich ein Werk, bei dem früher oder später alle erwarten, dass ich es spätestens als Zugabe spiele werde. Ich habe es zum Beispiel bei der Einweihung der Elbphilharmonie-Orgel als erstes Stück spielen wollen und dürfen. Und ich glaube, ich werde das auch in Zürich mal als Zugabe spielen. Ja, das macht mir immer Freude, es zu spielen. Vor allem, weil es aus der Feder eines lettischen Komponisten und Organisten stammt, der auch ein Freund und Kollege für mich ist.
Wie würden Sie Ihr Instrument beschreiben?
Das ist tatsächlich ein «König», nicht eine «Königin». Ein «König», der weiss, was er kann, der uns aber, die zu ihm kommen, etwas testen möchte und testen darf und kann. Der uns alle Möglichkeiten gibt, aber schaut, wie weit wir sind und ob wir tatsächlich schon für ein «Dinner with the King» bereit sind. Das mag zwar distanziert klingen, aber mein Instrument ist wirklich unglaublich vielfältig und herausfordernd, sodass man immer sehr gut vorbereitet sein muss. Die Orgel hat viele Überraschungen parat, denn es ist letztendlich eine sehr grosse Maschine. Also schon technisch gesehen, ist das Instrument sehr königlich ausgestattet – natürlich auch was den Preis betrifft. Für mich öffnet die Orgel eine einladende Welt, die uns zwar fordert, aber gleichzeitig auch auf eine Weise umarmt, wenn man den richtigen Weg findet. Ich habe einen grossen Respekt vor der Orgel, denn es gibt nicht «meine» Orgel, ausser jene zum Üben bei mir Zuhause. Es ist etwas anderes als zum Beispiel bei einem Violinisten, der mit einer bestimmten Geige reisen kann. Als Organist muss man sich immer wieder auf ein Instrument einlassen, als würde man einen anderen Menschen besuchen. Jedes Mal musst du in die Seele des anderen schauen, du musst mit ihm klarkommen – und man kommt nicht mit jedem immer einfach zurecht. Die Orgel ist ein Instrument, das viel gibt, aber wir müssen genauso viel zurückgeben. Wie bei Partner*innen muss man gemeinsam funktionieren und beide Seiten müssen sich respektieren, lieben, fordern und fördern.
Wie wichtig ist Applaus für Sie?
Sehr wichtig, denn da empfinde ich einen Energieaustausch. Applaus am Anfang ist wichtig, um sich zu begrüssen und auch um das Interesse und die Neugier im Saal zu spüren. Am Ende ist es wichtig, dass wir alle zusammen – also das Publikum, die Orgel und ich – diesen Moment feiern. Ich gebe dem Instrument auch einen Applaus. Denn meiner Meinung nach spielt das Konzert nicht nur der/die Interpret*in, sondern auch das Instrument und das Publikum. Wie das Publikum zuhört und sich während des Konzerts verhält, ist für mich auch Musik. Aber eine, die in der Partitur nicht festgehalten werden kann. Die Spannung und Entspannung ist wichtig, denn so kann das Publikum sich am Ende auch selbst feiern. Der Applaus zeigt: Wir haben gemeinsam etwas geleistet.
Haben Sie ein Ritual vor einem Konzert?
Das haben, glaube ich, alle Musiker*innen. Ich brauche immer einen Moment, wenn schon grünes Licht gegeben wurde, dass ich auf die Bühne darf. Dann brauche ich in der Regel noch so zwei Minuten in kompletter Ruhe und Stille hinter der Bühne, in der ich tief in mich gehe und bete. Und ich habe immer einen Glücksbringer bei mir, den ich auf den Spieltisch lege. Das ist ein dunkelrotes Säckchen, in dem drei Sachen drin sind: ein Rosenkranz von Johannes Paul II., den ich von ihm geschenkt bekommen habe, ein bemalter Stein von meinem Sohn und ein gebastelter Ring von meiner Tochter. Das ist immer dabei.
Was schätzen Sie an Dirigent*innen oder Orchestern?
Bei Dirigent*innen bin ich immer schon dankbar, wenn sie überhaupt mit Orgel auftreten. Das ist für viele Dirigent*innen ein heikles Thema, denn das heisst, zwei Orchester zu dirigieren. Eine Orgel ist ja gewissermassen auch ein Orchester, und so wollen das nicht viele. Aber diejenigen, die das Risiko eingehen, die leisten etwas ganz Besonderes. Das ist tatsächlich nicht einfach. Auch für Dirigent*innen, die öfter mit Orgel spielen, ist es nicht so alltäglich, wie mit Klavier oder Violine aufzutreten. Deshalb schätze ich immer schon die Tatsache als solche, dass sie überhaupt mit mir auf die Bühne wollen. Ich merke, dass das für das Orchester ähnlich ist. Da spüre ich manchmal eine gewisse Angst. Die Entwicklung zwischen der ersten und zweiten Probe finde ich daher toll. Wenn sich die Musiker*innen auf die Orgel einlassen. Da wachsen sozusagen zwei Orchester auf einer Bühne zusammen. Das schätze ich sehr.
Wenn Sie einen Fragebogen erstellen würden, welche Frage müsste darin enthalten sein?
Gute Frage! Ich weiss nicht, mmh. Ich muss sagen, ich selbst mag es nicht, wenn man mir die Interviewfragen vorher schickt. Für viele ist das ganz wichtig, um sich vorzubereiten, aber ich mag die Spontanität. Es gibt natürlich ganz viele Fragen, aber ich selbst mag Überraschungen. Daher gibt es keine Frage, die meiner Meinung nach in einem Fragebogen sein muss.
Interview: Franziska Gallusser
Konzerte
Erleben Sie Iveta Apkalna in folgenden Konzerten. Ausgewählte Konzerte sind auch Kosmos Orgel buchbar.
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