Unsere Spanientournee im Rückblick
Vom 27. bis 31. Oktober 2024 waren das Tonhalle-Orchester Zürich und Paavo Järvi auf Spanientournee. Was wir dort erleben haben, erfahren Sie hier im Blog.
Sonntag, 27. Oktober 2024 – Alicante
Auftakt in Alicante mit Mahlers Sinfonie Nr. 7 und einem Wetter, das nur teilweise den Klischees entspricht: Unsere Bratschistin Ursula Sarnthein hat schon am ersten Tag der Tournee einiges zu erzählen.
Am Meer, im Meer und über dem Meer
Freundlicherweise hat sich Spanien bei der Ankunft am Samstag von seiner sonnigen Seite gezeigt, ganz so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Gut gelaunte Orchestermitglieder wurden am Meer, im Meer, auf der palmengesäumten Esplanade und oben auf der Festung mit Blick aufs Meer gesichtet. Man hörte aber im Hotelflur im Vorbeigehen immer wieder fleissiges Üben, denn wir haben Mahlers 7. Sinfonie im Gepäck, und die hat es in sich!
The rain in Spain
Haika Lübcke und mich trafen die ersten Tropfen am Sonntag Mittag oben auf der Festung Santa Barbara – und das waren die ersten von sehr, sehr vielen Tropfen, die seitdem in sehr hoher Konzentration auf uns herabregnen. «Saal fussläufig, ca 12 min., 800 m» steht im Tourneeplan. An sich kein Problem, aber heute wurden wir auf dem kurzen Weg wirklich ziemlich nass. Unsere schönen gelben Tonhalle-Orchester-Schirme haben uns gute Dienste erwiesen und werden dies anscheinend noch weiter tun müssen: Der spanische Wetterdienst meldet auch für die nächsten Tage starke Regenfälle – aber vielleicht irrt er sich ja auch …
Eine Brille in den Noten
Auf Seite 10 in meiner Stimme (Bratsche) in Mahlers 7. Sinfonie lese ich vier Tonarten-Wechsel mit 1 bis 5 Vorzeichen, dazu noch alle möglichen anderen Vorzeichen, zwei Wechsel von Bratschen- zu Violinschlüssel und gleich wieder zurück, mindestens 15 Mal die Angabe «fortissimo», zwei Mal «pianissimo», unzählige Sforzati und eine mit Bleistift eingetragene Brille, um einen heiklen Tempowechsel richtig zu erwischen. Und das ist nur Seite 10 von 30. Auf fast allen Seiten sieht es so aus – vermutlich auch in den meisten anderen Stimmen. Ein gewaltiger Orchesterapparat mit u.a. fünf Flöten, je vier Klarinetten, Oboen und Fagotten, zwei Harfen – und dazu Herdengeläut, Kirchenglocken, eine Gitarre und eine Mandoline. Ein Riesenwerk. Das erste Konzert in Alicante ist tatsächlich unser allererstes Konzert mit Mahler 7, denn wir haben in Zürich bis jetzt nur geprobt. Mahler 7 kommt nicht so oft – und jeder weiss noch, wann er sie gespielt hat: Zuletzt 2015 und davor 2009. Ich habe sie tatsächlich noch nie gespielt, das macht es noch spannender …
Wir alle waren heute hochkonzentriert und definitiv angespannter als sonst in der ungewohnten, aber klaren, durchsichtigen Akustik des Auditorio mit der schönen goldenen Rückwand. Mir scheint, wir haben das gut hingekriegt, jubelnder Applaus beim Publikum.
Dienstag, 29. Oktober 2024 – Barcelona
Von Mahlers Sinfonie Nr. 7 war in diesem Blog schon die Rede. Aber die Sonderaufgabe des Schlagzeugers Benjamin Forster muss noch extra erwähnt werden – findet unsere Bloggerin Ursula Sarnthein.
Kuhglocken, nicht Geissenglocken!
Das Herdengeläut in Mahlers Sinfonie Nr. 7 verdient definitiv einen eigenen Blogeintrag. Benny Forster hat auf dieser Tournee die ehrenvolle Aufgabe, es hinter der Bühne zu spielen, um den Zuhörer akustisch auf eine Alm mit Kühen und Geissen zu versetzen. Benny erklärte mir, dass man dafür normalerweise zu zweit mehrere auf einem Tisch stehende Glocken abwechselnd in zufälliger Länge und Reihenfolge läutet und wieder zurückstellt. Auf der Tournee muss er das allein machen, und damit er eine anständig grosse Herde suggerieren kann, hat er sich eine Konstruktion ausgedacht: Alle Glocken hängen frei schwingend an einem Gestell, und er kann sie einfach anstossen. Das hat auch den Vorteil, dass sie wie auf der Alm am Hals der Kuh frei schwingen. Zum Herdengeläut gehören grosse, tief klingende Kuhglocken und kleine, hell klingende Geissenglocken. Paavo Järvi bevorzuge Kuhglocken, verriet mir Benny, er mag das Herdengeläut lieber tief.
Gestern im Konzert in Barcelona mussten Paavo Järvi und auch wir schmunzeln, als er das Herdengeläut mit einer besonders energisch klingenden tiefen Kuhglocke begann. Benny hat das Schmunzeln auch gesehen, denn er hat hinter der Bühne einen grossen Dirigenten-Monitor, um zu wissen, wann er seine Herde in Bewegung setzen soll. Einen wichtigen Vorteil gegenüber seinen Kolleg*innen hat er übrigens bei dieser Aufgabe als Herdenglöckner: Er muss keine Konzertkleidung anziehen und kann seine Baseballkappe aufbehalten, da er inkognito hinter der Bühne bleibt.
Das Herdengeläut hätte heute im Bahnhof von Barcelona auch wunderbar gepasst, als der ganze Tross von 112 Personen durch das wirklich lange, zum Glück aber leere Warteschlangen-Labyrinth zum Gepäck-Röntgen geleitet wurde. In solchen Momenten schaltet sich bei uns das Herdengehirn ein, und irgendjemand beginnt garantiert damit, «Muh» oder «Mäh» zu singen …
Mittwoch, 30. Oktober 2024 – Madrid
Für einen Musiker ist die Spanien-Tournee ein Heimspiel: Der Bratschist Héctor Cámara Ruiz kommt aus Madrid. Michaela Braun, Leitung Marketing und Kommunikation und mit dabei auf der Spanien-Tournee, hat mit ihm gesprochen.
Madrid, Fussball und das offene Zürich
Real Madrid oder Atlético Madrid? Ganz klar Real, sagt Héctor Cámara Ruiz. Ja, er habe gelitten nach dem Spiel am vergangenen Samstag – 4:0 hatte Real im El Clásico verloren. Barcelona domninierte das Spiel.
Als Kind war er oft im alten Bernabeu Stadion in Madrid. Das habe viel Flair gehabt. Der Vater hatte ein Abonnement, und da durfte er immer mal wieder mitgehen. Das neue Stadion sei sehr cool, aber noch fehle ihm die Seele.
In seiner Familie ist er der einzige Musiker, «aber mein Vater spielt unglaublich gut Klavier und improvisiert oft». Als Kinder hätten er und seine Schwester immer viel gesungen. Keine Ferienreise ohne Gesang. Queen, Bruce Springsteen oder die Beatles, die Musik der Eltern eben. Erst als Erwachsener habe er die Qualität dieser Musik begriffen, «als Kind singt man halt mit.»
Er liebt seine Heimatstadt Madrid. Sie ist so offen, hat eine gute Atmosphäre, grossartige in sich abgeschlossene Quartiere, und sie sei sicher. In seinem Quartier – Arganzuela – war es wunderbar, aufzuwachsen. Dass wir mit dem Orchester diese Woche in Madrid sind, erfüllt ihn mit Stolz. Und wer zum ersten Mal in Madrid sei, müsse mindestens einmal im Leben im Museo del Prado gewesen sein.
Seinen Master hat er in München gemacht. Da begann er auch Deutsch zu lernen. Zwei Jahre lang war er in der Akademie des BR-Orchesters. Eine spannende Zeit – es waren die letzten Monate unter Mariss Jansons. Das Orchester hatte einen unglaublichen Respekt vor diesem Dirigenten. Jansons letztes Konzert, bei dem auch Héctor dabei war, war in der Carnegie Hall in New York. Die vierte Sinfonie von Brahms. Jansons sei immer noch «pure Musik» gewesen, «es hat mich tief beeindruckt, wie er jedem einzelnen von uns ein Gefühl für die Bedeutung der Werke vermitteln konnte».
Bevor er sich für die Stelle in Zürich bewarb, hatte Héctor einen Zeitvertrag mit dem BR-Orchester von 6 Monaten. Warum Zürich, wollen wir wissen. «Das Orchester hat einen sehr guten Ruf und meine Bewerbungen habe ich sehr vorsichtig gemacht, ich habe nicht einfach meine Unterlagen an alle freien Stellen gesandt.» Die Schweiz kannte er damals noch gar nicht, er war nur einmal in Basel gewesen. Zürich wirkt auf ihn offener als erwartet – sehr divers und sehr international. Er wohnt zusammen mit seiner Freundin in Zürich Enge: nahe an der Tonhalle, und es gibt alles, was er braucht, vom Kino übers Café bis hin zum See. Die Lebensqualität sei enorm. Enorm sind auch die Ansprüche der deutschen Sprache: «Es ist eine Herausforderung, gekoppelt mit dem Dialekt, aber alle sprechen ja so viele Sprachen in Zürich, es kommt so langsam.»
Beim Orchester hat er einen Teilzeitvertrag, daneben hat er in Freiburg angefangen zu unterrichten. Das gefällt ihm, weiterzugeben, was er gelernt hat. Und wenn er nicht musiziert, dann spielt er im Fussballteam des Tonhalle-Orchesters Zürich. Eine tolle Kameradschaft sei das. Wenn die Zuzüger dabei sind, seien sie oft bis zu 18 Spieler.
An Paavo Järvi findet er einzigartig, wie klar er Einsätze mit der Hand gäbe. Keiner könne das so gut wie er.
Und nun volle Konzentration auf die beiden Madrid-Konzerte. Die Familie kommt auch.
Freitag, 01. November 2024 – Zaragoza
Zum Abschluss der Tournee schaut die Bratschistin Ursula Sarnthein zurück auf eine Woche, die für das Orchester eine besondere war – und für Spanien eine tragische.
Adiós!
Gestern ging die Spanien-Tournee 2024 zuende, wir nehmen die Erinnerung an spannende musikalische Erlebnisse und schöne Begegnungen und Unternehmungen mit Kolleg*innen und Gästen mit ins herbstliche Zürich. Im Auditorio Zaragoza vor fast 2000 Zuhörern spielten wir ein letztes Mal Prokofievs Violinkonzert und Schostakowitschs 6. Sinfonie.
Unseren Weg zum Auditorio in Zaragoza – direkt neben dem Fussballstadion – kreuzten am 31. Oktober viele verkleidete Kinder auf der Suche nach Halloween-Treats. Das Auditorio in Zaragoza hatte von allen Sälen den grössten Nachhall und trug den Klang der Bläser besonders gut. Immer wichtig für uns Musiker sind die Stühle auf der Bühne, zum Glück waren sie in fast allen Sälen funktional. Das Auditorio in Zaragoza hat sehr hübsche, mit naturfarbenem Leder bezogene Stühledafür, leider aber sehr niedrig. Die beiden hochgewachsenen Celli am 1. Pult, Anita Leuzinger und Christian Proske, konnten die für sie notwendige Sitzhöhe zum Spielen doch noch erreichen, indem sie zwei bzw. drei unserer mitgeführten Sitzerhöhungen übereinanderstapelten …
… und noch ein Blick zurück auf die letzten Tage:
Der Palau in Barcelona ist ein spektakulär dekorierter Jugendstilsaal, akustisch fanden wir ihn herausfordernd, im Klang eher trocken und mit wenig Nachhall. Der Konzertsaal in Madrid hatte von allen die schönste Akustik, und wir waren uns einig, dass wir das Palau in Barcelona gerne mit der Akustik von Madrid kombinieren würden. Die Bühne in Barcelona stellte sich dann noch als zu klein für die Mahler-Besetzung heraus, obwohl unsere OT wie immer erstklassige Arbeit bei der Aufstellung geleistet hatten. Haika Lübcke mit dem Piccolo sass quasi mitten in den Kontrabässen, und das letzte Pult der ersten Geigen konnte gar nicht mitspielen, weil sie unter der Balustrade des 1. Rangs eigentlich nicht mehr auf der Bühne, sondern schon im Publikum gesessen hätten, das Orchester akustisch in weiter Ferne. Auf der anderen Seite der Bühne ging es gerade auf, die zweiten Geigen spielen immer mit einem ein Pult weniger. Das letzte Pult hatte einen netten Austausch mit den dort sitzenden Zuhörer*innen – jemand zeichnete die zweiten Geigen sogar von seinem Platz aus (vgl. Bild unten).
Von Barcelona reisten wir mit Hochgeschwindigkeitszug nach Madrid, unser Gepäck wurde separat mit einem Lastwagen transportiert, da 112 Koffer und Instrumente das zügige Einsteigen doch stark erschweren würden. Dazu gaben wir die Koffer entweder am Vorabend oder am Morgen um 6.55 Uhr ab. Das notgedrungen frühe Aufstehen nutzten viele für einen schönen sonnigen Morgenspaziergang zur Kathedrale Sagrada Familia.
Madrid erwartete uns mit kühlem, regnerischem Wetter, als Vorbote des Unwetters, das Spanien am Mittwochabend heimsuchen würde. Nach dem zweiten Konzert erlebten viele von der Sicherheit eines Restaurants aus draussen ein heftiges Gewitter, und auf dem Rückweg zum Hotel im strömenden Regen lagen viele vom Wind umgeworfene Mülltonnen im Weg.
Am nächsten Morgen beim Hotelfrühstück sahen wir auf einem Bildschirm dann die bedrückenden Bilder der Katastrophe in der Stadt, in der wir am letzten Samstag gelandet waren. Es tat gut, in einer Schweigeminute vor Konzertbeginn an die betroffenen Menschen zu denken.