Leader unter sich
Vier Stimmführer des Tonhalle-Orchesters Zürich präsentieren sich erstmals als Streichquartett – mit Werken von Schostakowitsch, Dessner und Haydn.
Wenn die Musiker*innen des Tonhalle- Orchesters Zürich auftreten, geschieht dies meist im grossen Saal und in grosser Besetzung. Verschiedene Konzertformate erlauben es den Orchestermitgliedern aber auch, im kammermusikalischen Rahmen eigene Konzertprogramme zu gestalten: Das tun nun auch die Geiger Klaidi Sahatçi und George-Cosmin Banica, der Bratschist Gilad Karni und der Cellist Paul Handschke.
Requiem und Sonnenaufgang
Am 20. Juni 2024 widmen sich die vier auf Anregung von Gilad Karni besonders intensiv dem Thema «Dunkelheit und Licht», das die Kammermusik-Lunchkonzerte in der laufenden Saison prägt. Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8, das der Komponist als sein eigenes Requiem konzipierte, markiert den Anfang des Programms. Am Schluss erklingt Haydns Streichquartett op. 76/4 – das sogenannte «Sonnenaufgang»-Quartett. Den «kalten, dunklen, grauen und schwarzen Harmonien» Schostakowitschs, wie Gilad Karni sie beschreibt, steht also die von Haydn auskomponierte aufgehende Sonne gegenüber. Ein Kontrast, der sich besonders in den Anfängen zeigt: Beide Quartette beginnen mit der Violine, die über den anderen Instrumenten schwebt. Zwischen diesen Werken gibt es Bryce Dessners «Little Blue Something», das sich vielleicht gerade deshalb als Drehpunkt eignet, weil bereits der Titel keine wirkliche Zuordnung erlaubt.
Was macht ein Stimmführer?
Mit diesem Programm stehen die vier Musiker vor einer Herausforderung, die sie als frisch zusammengestelltes Ensemble bewältigen. Sie haben sich in dieser Formation explizit für das Konzert zusammengefunden, aber sie arbeiten auch im Orchester regelmässig zusammen – nicht als Kammermusiker, sondern als Stimmführer. Als solche sind sie jeweils für ihre eigene Streichergruppe verantwortlich und nehmen eine Reihe von Aufgaben wahr, die weit über die Interpretation und Umsetzung ihrer jeweiligen Stimme hinausreichen. So geht es unter anderem darum, die Aufund Abstriche mit dem Bogen innerhalb der Gruppe abzustimmen – also nicht nur für einen einheitlichen Klang, sondern auch für ein einheitliches Bewegungsbild zu sorgen. Auch sonst gilt es, die Gruppe musikalisch zu organisieren und dazu die Soli zu spielen, «die dann abgeliefert werden müssen», wie Paul Handschke es formuliert.
Allerdings sind die jeweiligen Instrumentengruppen nicht allein im Orchester, sondern nehmen eine gleichberechtigte Position innerhalb des gesamten Klangkörpers ein. Dies erfordert ein hohes Mass an Abstimmung, das zwar stark von den Dirigent*innen abhängt, aber auch auf der Kommunikation zwischen den Stimmführer*innen basiert. So werden die Bewegungen zwangsläufig auch zwischen den Gruppen abgesprochen, erklärt Gilad Karni, genauso wie die Dynamik im gesamten Streicherapparat: «Manchmal bittet man eine andere Gruppe, etwas sanfter zu spielen, weil wir die Melodie haben.» Oder aber beide Gruppen spielen dasselbe und haben beide ein Pianissimo: «Wenn dann ein Stimmführer bemerkt, dass die verschiedenen Gruppen dynamisch anders spielen, muss auch das geklärt werden.»
Gleichberechtigung mal vier
Wenn der Konzertmeister Klaidi Sahatçi, der 2. Konzertmeister George-Cosmin Banica und die Stimmführer Gilad Karni und Paul Handschke also mit den Proben für dieses Lunchkonzert beginnen, sind sie sich keineswegs fremd. Doch die Position als Stimmführer kann nicht mit der Arbeit als Kammermusiker verglichen werden. Trotz gewisser Parallelen funktioniert das kammermusikalische Musizieren komplett anders. Zwar ist die Kommunikation genauso essenziell, doch «es gibt keine Hierarchie, es ist völlig egal, was für Aufgaben man im Orchester hat», erklärt Paul Handschke. Ausserdem ist man hier «alleine und exponiert», sagt Gilad Karni: anders als im Orchester, wo man Teil eines grösseren Ganzen ist.
«In der Kammermusik gibt es keine Hierarchie, es ist völlig egal, was für Aufgaben man im Orchester hat. Man schaut, wo jede Person für sich selbst steht und wo man schon auf einem gemeinsamen Nenner ist. Dann muss man einfach zusammen den Weg gehen.»
Paul Handschke, Solo-Violoncello
Bei der Kammermusik lassen die vier also die Arbeit im Orchester beiseite und beginnen bei der Interpretation der Werke quasi bei «Null», schildert Paul Handschke, denn zuerst «schaut man, wo jede Person für sich selbst steht und wo man schon auf einem gemeinsamen Nenner ist. Dann muss man einfach zusammen den Weg gehen». Dabei sind sie alle gleichgestellt, das betonen sowohl Karni als auch Handschke: Ohne einen Dirigenten hat in dieser Formation jeder Interpretationsansatz dieselbe Daseinsberechtigung.
«Meinem Andenken gewidmet»
Paul Handschke findet es «extrem spannend, einen Haydn mit einem Schostakowitsch zusammenzubringen». Gilad Karni hatte bei der Programmvorgabe sofort an Schostakowitschs Streichquartett in c-Moll und jenes von Haydn in B-Dur denken müssen. Der Kontrast der beiden Werke existiert denn auch auf verschiedenen Ebenen. Schostakowitsch schrieb das Quartett, so berichtete er es zumindest nachträglich, mit der Intention, dass es «meinem Andenken gewidmet ist» – damit wenigstens ein einziges solches Werk existieren würde.
Bereits darin wird eine tiefgründige Erschütterung erkennbar, welche die Musizierenden «auch physisch an die Grenzen bringt», wie Paul Handschke seine bisherige Erfahrung mit dem Quartett beschreibt. Dagegen vermittelt der Beiname von Haydns Streichquartett einen Glanz, eine Strahlkraft, die wohl nach dem Innehalten mit dem Werk von Bryce Dessner umso kraftvoller erscheinen kann und das Konzert mit «Optimismus, mit einem neuen Tag» beschliesst, wie Gilad Karni das Ende des «Sonnenaufgang»- Quartetts beschreibt.
Wer weiss, vielleicht ist dieses kontrastreiche Konzert auch für das Stimmführer- Quartett der Beginn von etwas Neuem.