
«Immer von Neuem Vorfreude wecken»
Stammgäste und Debüts, Mahler und sein Umfeld, Tourneen und Einheimisches: Music Director Paavo Järvi und Intendantin Ilona Schmiel im Gespräch über die Saison 2025/26.
Die neue Saison steht bevor – wie könnte man möglichst knapp formulieren, was sie ausmacht?
IS Kontinuität und Entdeckung!
PJ Genau. Oder ein bisschen ausführlicher: Einerseits ziehen sich verschiedene Linien durch das Programm, die wir schon länger verfolgen. Die bedeutendste ist für mich der Mahler-Zyklus, der uns mit zwei Sinfonien pro Saison intensiv beschäftigt. Es ist ein ambitioniertes Unterfangen, aber bisher läuft es sehr gut; das Orchester spielt fantastisch. Andererseits wollen wir dem Publikum auch neue Klangwelten eröffnen. In dieser Saison ist es vor allem jene des britischen Komponisten Thomas Adès, der als Creative Chair eine zentrale Rolle spielen wird.
IS Manchmal finden das Einerseits und das Andererseits, die Kontinuität und die Entdeckung auch zusammen. Etwa beim Mahler- Sinfonien-Zyklus: Da schauen wir jeweils, mit welchen Inhalten wir diesen ergänzen. Das fängt mit Liedern von Alma Mahler in der Reihe «Literatur und Musik» an und führt über eine Kammermusikfassung von «Das himmlische Leben» bis hin zu unserem digitalen Game «Das magische Sinfonieorchester», in dem das Gespenst Gustav heisst und eine unverkennbare kleine Fliege trägt. Wir planen übrigens eine englische Version dieses Games für unsere internationale Community – auch dies eine konsequente Weiterentwicklung. Die Musik von Thomas Adès wiederum ermöglicht in der Kombination mit Werken der britischen Komponistinnen Hannah Kendall und Anna Clyne weitere Entdeckungen, wird aber gleichzeitig durch den Klarinettisten und ehemaligen Fokus-Künstler Martin Fröst in der Geschichte unseres Orchesters verankert.
Thomas Adès gehört zu den gefragtesten zeitgenössischen Komponisten überhaupt. Welche Beziehungen habt ihr zu ihm?
PJ Ich kenne ihn bisher nicht persönlich, aber seine Musik interessiert mich seit langem. Es gibt ja viele gute Komponisten heute, aber nur wenige, die mit einer ganz eigenen Tonsprache herausstechen – Thomas Adès ist einer von ihnen. Er ist zweifellos DER britische Komponist derzeit. Damit füllt er bei uns auch eine geografische Lücke: In den letzten Jahren kamen unsere Creative Chairs aus den USA, aus Island, Estland und Japan; einen Engländer hatten wir noch nie.
IS Erstmals bin ich Thomas Adès 2007 in Bonn begegnet, wo seine Kammeroper «Powder Her Face» aufgeführt wurde. Er war schon lange ein Wunschkandidat für die Position des Creative Chairs, denn für mich schafft er den perfekten Spagat: Seine Werke sind unmittelbar verständlich, obwohl sie komplex sind; sie sind für das Publikum attraktiv, aber auch für die Musiker*innen. Das gilt für seine grossen Orchesterwerke und Solokonzerte ebenso wie für seine hoch interessante Kammermusik. Zudem verbindet er verschiedene Rollen. In Zürich wird er nicht nur als Komponist zu entdecken sein, sondern auch als Dirigent und Pianist – letzteres im Duo mit Kirill Gerstein.
Der Pianist Kirill Gerstein ist einer unserer Fokus-Künstler, die zweite Fokus-Künstlerin ist die Cellistin Sol Gabetta. Was verbindet euch mit ihnen?
PJ Sehr viel! Beide sind alte Freunde von mir. Kirill Gerstein ist nicht nur ein fantastischer Pianist, er hat auch einen sehr weiten Horizont – als denkender Musiker, der intensive Kontakte zu vielen zeitgenössischen Komponisten pflegt. Auch Sol Gabetta ist ein wunderbarer Mensch, so stark und positiv und warmherzig; ausserdem spielt sie neben den bekannten Konzerten vieles, wovor andere zurückschrecken.
IS Das wird man zum Beispiel bei ihrem Konzert mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja hören, die beiden sind als Duo bekannt für ihr ganz spezielles und ausgefallenes Repertoire. Und gegen Ende der Saison tut sie sich mit dem Celloregister unseres Orchesters zusammen, das sich in den letzten Jahren zu einem eigenen Ensemble entwickelt hat. Sol Gabetta besitzt diese Offenheit, sich auf ganz verschiedene Konstellationen einzulassen. Und sie ist ein absoluter Publikumsliebling.
Auch sonst treten viele langjährige Verbündete auf: Hélène Grimaud, Hilary Hahn, Janine Jansen, Igor Levit, Víkingur Ólafsson, Fazıl Say …
PJ Das ist tatsächlich eine ziemlich glamouröse Liste, aber vor allem eine sehr persönliche. Für mich wird es immer wichtiger, dass ich mit Menschen auf der Bühne bin, denen ich nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich vertraue. Ich bin überzeugt, dass die Aufführungen besser werden, wenn es eine wirkliche Verbindung gibt, und dass das Publikum das spürt. Natürlich ist es interessant, neue Talente zu entdecken. Aber für mich haben die Auftritte mit Freund*innen eine besondere Qualität, es sind die schönsten Erfahrungen.
IS Man muss bedenken, dass eine Saison 45 Wochen hat; da gilt es, immer wieder von Neuem Vorfreude zu wecken. Diese steigt, wenn man zum Beispiel eine bereits bekannte Solistin in einem ganz neuen Zusammenhang oder mit überraschendem Repertoire vertieft kennenlernen kann. Wir denken deshalb viel über Kombinationen von Dirigent* innen, Solist*innen und Werken nach. Wer passt zu wem, welche Komposition eröffnet neue Horizonte, wie verbinden wir Vertrautes und Unerwartetes? In diesen Mix gehören immer auch Debüts: Wir wollen dem Publikum und dem Orchester in jeder Saison neue Persönlichkeiten vorstellen.
Was sind denn die wichtigsten Debüts in der Saison 2025/26?
IS Da möchte ich vier Dirigier-Premieren nennen: Ich freue mich sehr auf die Französin Marie Jacquot, die mit Beethovens Violinkonzert und dem Solisten Augustin Hadelich ihren Einstand gibt, sich aber auch auf unseren Adès-Schwerpunkt einlässt. Adès selbst wird ebenfalls erstmals vor dem Orchester stehen, er dirigiert unter anderem sein eigenes Klavierkonzert mit Kirill Gerstein als Solist. András Schiff, der bisher als Pianist mit dem Orchester zusammengearbeitet hat, wird nun vom Klavier aus Konzerte von Bach und Beethoven leiten. Und dann haben wir das Debüt von Florian Helgath, der als künstlerischer Leiter der Zürcher Singakademie schon an vielen erfolgreichen Produktionen beteiligt war. Er dirigiert in Mendelssohns «Paulus» erstmals auch unser Orchester.
PJ Ich möchte noch eine weitere Dirigentin erwähnen: Julia Kurzydlak war die Siegerin unserer Conductors’ Academy 2023/24, auch bei meinem Festival in Pärnu besuchte sie eine Masterclass. Nun wird sie meine neue Assistant Conductor.
Beim Durchblättern des Programms fallen drei weitere Dinge besonders auf. Erstens: Es gibt neben dem Mahler-Zyklus erneut einen Schostakowitsch-Schwerpunkt. Das Jerusalem Quartet präsentiert den zweiten Teil der Streichquartette, auch Paavo dirigiert wieder drei Werke von ihm.
PJ Ich bin mit Schostakowitschs Musik aufgewachsen und liebe sie sehr, aber ich finde es immer wieder erstaunlich, wie stark das Zürcher Publikum und auch das Orchester auf seine Werke reagieren. Sie erzählen sehr spezifisch von seiner Realität und seiner Zeit, aber irgendwie scheint da eine ganz intuitive Verbindung zu bestehen.
IS Diese Verbindung war auch bei der unglaublich bewegenden Interpretation des Jerusalem Quartet in der vergangenen Saison spürbar. Wenn wir vorhin von Vorfreude sprachen: Ich kann den zweiten Teil dieses Zyklus kaum erwarten.
Zweitens: Paavo, du dirigierst erstmals Werke von Arthur Honegger!
PJ Das wollte ich schon lange tun, nicht nur weil er Schweizer war – er war vor allem ein sehr guter Komponist. Aber natürlich ist seine Nationalität ein zusätzliches Argument dafür, dass wir seine Werke nun im Konzert präsentieren und auch auf CD einspielen. Ich möchte nicht von Pflicht reden, das klingt zu negativ; aber es ist eine Mission für uns, diese Werke lebendig zu erhalten.
IS Es gibt auch neben Honegger eine Schweizer Linie. Der Dirigent Philippe Jordan kommt zurück, der Komponist Rodolphe Schacher komponiert ein neues Stück für unser Familienkonzert «Froschkönig», das Duo Calva ist wieder dabei. Auch mit speziellen Formaten verstärken wir die lokale Verankerung: Zusammen mit anderen Zürcher Institutionen führen wir das Projekt «Connect» weiter, bei dem wir Tanztrainings zu live gespielter Musik für Menschen mit Parkinson oder MS anbieten. In der Reihe «classic meets art» werden erneut Konzerte in Galerien und Museen stattfinden, und die Kammermusikreihe «Kunterwunderbunt» in den Zürcher Gemeinschaftszentren geht in die zweite Runde. Ausserdem werden wir mit ehemaligen Schülermanager*innen, die in den letzten zehn Jahren einen Einblick in unseren Betrieb erhalten haben, in einem «Thinktank» neue Wege für die klassische Musik diskutieren.
Drittens: Mit Messiaens «Turangalîla»- Sinfonie steht ein Hauptwerk der letzten Jahrzehnte erstmals seit 2008 wieder auf dem Programm.
IS Auch damit knüpfen wir an Früheres an: Paavos erste CD-Aufnahme mit unserem Orchester war Werken von Olivier Messiaen gewidmet. Die «Turangalîla»-Sinfonie wird nun von Kent Nagano dirigiert, der den Komponisten sehr gut kannte.
PJ Wenn wir von Bekanntschaften mit Komponisten reden: Unser ehemaliger Creative Chair Arvo Pärt wird im September 90 Jahre alt, und wir feiern ihn mit zwei Programmen. Das bedeutet mir sehr viel, er ist eine estnische Ikone und ich kenne ihn schon seit meiner Kindheit. Eines der Konzerte wird mein Estonian Festival Orchestra spielen, das schon mehrfach in Zürich zu Gast war.
Umgekehrt ist das Tonhalle-Orchester Zürich auch in der Saison 2025/26 wieder anderswo zu Gast: Eine weitere Asien- Tournee steht an, dazu eine erste Residenz in Baden-Baden.
IS Wir waren im Herbst 2023 zuletzt in Japan und Südkorea, nun reisen wir erneut in diese beiden Länder; wir wollen die Beziehungen dort pflegen und ausbauen. Wie letztes Mal werden wir wieder in Seoul und Tokio gastieren und dann von Tokio aus per Zug in andere Städte fahren. In Baden-Baden beginnt dagegen ein neues Abenteuer: Wir haben für drei Jahre eine Partnerschaft mit dem Festspielhaus für unseren Mahler-Zyklus. Das ist ein Glücksfall – auch weil wir dort einen idealen Konzertsaal für die gigantische Sinfonie Nr. 8 haben. Saisongespräch
Zum Schluss eine Doppelfrage: Welches Konzert würdet ihr Klassikfans empfehlen? Und welches jemandem, der noch nie in der Tonhalle Zürich war?
PJ Wer schon alles kennt, müsste dennoch auf jeden Fall eine Mahler-Sinfonie hören – es ist immer spannend, neue Ansätze zu entdecken. In der Liste der Solist*innen wird man bestimmt ebenfalls fündig. Und dass man in ganz unterschiedlichen Formaten die musikalische Welt von Thomas Adès erkunden kann, ist eine einmalige Chance. Übrigens vielleicht auch für jene, die noch nie ein klassisches Konzert besucht haben: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade jüngeres Publikum den Zugang zu zeitgenössischer Musik oft leichter findet als etwa zu einer Haydn-Sinfonie.
IS Ich möchte sowohl Kenner*innen als auch Newcomer*innen neben den Orchesterprogrammen zwei Orgelrezitale nahelegen: Eines spielt unsere faszinierende ehemalige Fokus-Künstlerin Iveta Apkalna, das andere der junge Organist Aurel Dawidiuk. Beide präsentieren Werke von Bach jeweils im Kontrast zu sehr unterschiedlichen Komponisten: Eine spannende Konstellation und eine gute Möglichkeit, unsere Kuhn-Orgel wieder einmal in ihrer ganzen Pracht und Vielfalt zu erleben.