Der Weltengang und musikalische Realitäten
In welche Richtung zeigt der musikalische Kompass 2024/25? Music Director Paavo Järvi und Intendantin Ilona Schmiel über wenig Offensichtliches aus dem Norden, Neuland von John Adams und unter freiem Himmel sowie über Meisterwerke von Mahler und Schostakowitsch.
Wir haben mit dem Saisonprogramm die Landkarte für unsere Reise in der Saison 2024/25 vor uns. Wohin geht es?
IS Wir reisen virtuell nach Island. Das ist ein wichtiger Schwerpunkt in diesem Jahr, denn das ist unter anderem die Heimat von unserer Creative Chair Anna Thorvaldsdottir. Sie ist in Reykjavik geboren. Ebenso Víkingur Ólafsson, einer unserer Fokus-Künstler. Wir haben ausserdem die Dirigentin Eva Ollikainen zu Gast. Sie gibt ihr Debüt bei uns – und leitet sonst das Iceland Symphony Orchestra und hat auch Stücke von Anna Thorvaldsdottir uraufgeführt. Wir konnten auch Familienkonzerte mit ihrer Musik ins Programm aufnehmen: «Thorstein und die Riesen». Also auch da ist Island ein Thema – genauso bei «Literatur und Musik» und in unseren Kammermusik- Lunchkonzerten.
Paavo, was verbindest du musikalisch mit Island?
PJ Island ist ein sehr, sehr wichtiges Land für Estland, mein Heimatland. Es war das allererste Land, das die Unabhängigkeit Estlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion anerkannt hat. Wir haben sogar einen «Island-Platz» in Estland, in Tallin («Islandi väljak»). Und wir sind sehr verbunden, weil es – was kaum möglich ist –, ein noch kleineres Land als Estland ist. Aber es ist ein Land mit einer fantastischen Kultur, insbesondere einer grossartigen Musikkultur. Ich war ein paar Mal in Island, und ich erinnere mich sehr gerne an die musikalischen Begegnungen mit dem Iceland Symphony Orchestra und Leif Ove Andsnes als Solist. Und wenn es um isländische Komponist*innen geht, dann eilt ihnen ihr Ruf voraus. Island ist wirklich weltweit bekannt für seine herausragenden Komponist*innen.
Bleiben wir noch ein wenig bei Anna Thorvaldsdottir. Sie ist nächste Saison Creative Chair. Was für eine musikalische Persönlichkeit erwartet uns, Ilona?
IS Sie ist jemand, die sich allen Prozessen, die in der Welt gerade stattfinden, sehr intensiv widmet. Die Natur, der sie sich sehr bewusst zuwendet, spielt eine wichtige Rolle. Aber man hat immer das Gefühl, dass sie die grossen Themen, die grossen Entwicklungen hinterfragt. Nehmen wir etwa das erste Stück, das unser Publikum entdecken wird, «Archora». Der altgriechische Titel setzt sich zusammen aus «archē» für den Urbeginn und «chora» für den Raum – es geht also wirklich um die ganze Welt. Der Weltengang wird in Bewegung gesetzt. Und in der Partitur ist genau dies auch erkennbar – ein intensiver Entwicklungsprozess über 18 Minuten hinweg. Dabei schreibt sie sehr klar, was sie meint. Es gibt einen klaren Prozess der Transformation in den Klängen. Trotzdem gibt sie allen Musiker*innen eine gewisse Freiheit, auch Paavo als Dirigenten. Für mich hat ihre Musik etwas sehr Berührendes. Und ich denke, auch für unser Musiker*innen ist dies Musik, die sie gerne spielen werden.
Kennst du ihre Musik bereits, Paavo?
PJ Es wird das erste Mal sein, dass ich Musik von ihr dirigiere. Aber ihre Musik ist weit verbreitet und wird von vielen verschiedenen Leuten und Orchestern aufgeführt. Und für mich, einen Musiker aus dem Norden, der viel Musik aus den nordischen Ländern hört, auch aus Finnland und Schweden und Norwegen und Estland, gibt es eine Art von vertrauter Stimmung. Eine nordische Stimmung.
Kannst du einige Aspekte nennen, die für dich nordisch sind?
PJ Es ist schwierig, genau in Worte zu fassen, was diese Dinge sind. Wenn ich mir zum Beispiel moderne estnische Musik anhöre, etwa von Erkki-Sven Tüür, dann klingt sie ein bisschen estnisch für mich. Ich kann nicht genau sagen, warum. Aber es ist so. Und möglicherweise ist sie es auch nicht ... Es sind nicht die Techniken, die sich von jenen anderer Komponist*innen unterscheiden. Ich meine, die meisten zeitgenössischen Komponisten haben ein bestimmtes Vokabular an Techniken, das sie alle verwenden, wenngleich auch mit einigen Variationen.
Hat es etwas mit Atmosphäre zu tun?
PJ Ganz genau. Und es geht darum, wie der Kontext dieser Techniken ist, von bestimmten Klängen. Es gibt dann nicht selten eine Vorliebe für eine bestimmte Art von Klängen. Das ist etwas sehr Subjektives. Manches erinnert uns an eine Art von Naturgeräuschen, aber sie sind nicht sehr direkt. Ich spreche nicht von Vogelgezwitscher oder etwas allzu Offensichtlichem. Es ist eine Art von allgemeinem Gefühl und Klang, den man von der nordischen Natur bekommt. Im Fall von Anna Thorvaldsdottir finde ich es sehr interessant, dass sie einen Sound erreicht, der manchmal wie ein elektronischer Sound zu sein scheint, aber sie benutzt ihn nicht. Sie benutzt wirklich nur die Instrumente des Orchesters, und sie hat auch diese Momente, in denen man sich nicht ganz sicher ist, wie das geht, wie das gemacht wird. Faszinierend!
Er kennt die Welt. Und irgendwie kann ich nicht anders, als ihn als einen Interpreten zu betrachten, der perfekt in seine Zeit passt.
Víkingur Ólafsson haben wir schon erwähnt. Was ist seine wichtigste Charaktereigenschaft, sowohl persönlich als auch in Bezug auf die Musik, Ilona?
IS Ich würde sagen, dass er es liebt, sehr tief in die Musik einzusteigen. Das hat er auch schon in der Saison 2023/24 vor ausverkauftem Saal gezeigt: Er hat die »Goldberg- Variationen» gespielt, und es ist erstaunlich, was er mit Bach macht. Andererseits ist er aber auch sehr offen: Und so spielt er nun mit uns die Schweizer Erstaufführung des neuen Klavierkonzerts von John Adams – unserem Creative Chair der Saison 2021/22. Kurz zuvor spielt er die Uraufführung in den USA. Und auch das ist typisch für Víkingur: Er macht keine halben Sachen. Wenn er etwas macht, dann ist er wirklich involviert und zeigt seine eigene Perspektive.
Wie nimmst du ihn wahr, Paavo?
PJ Ich habe schon ziemlich häufig mit ihm als Solist Musik gemacht: Wir haben nicht nur moderne Musik aufgeführt, auch Mozart und andere Werke aus dem klassischen Repertoire. Und ich finde es bemerkenswert, dass er bei jeder Musik einen ganz besonderen, interessanten Ansatz hat. Er ist ein sehr origineller Musiker, ein sehr intelligenter Mensch. Er kennt die Welt. Und irgendwie kann ich nicht anders, als ihn als einen Interpreten zu betrachten, der in seine Zeit gehört, der perfekt in seine Zeit passt. Er ist eine gute Kombination aus jemandem, der sich eingehend mit dem Repertoire beschäftigt, und einem Menschen des 21. Jahrhunderts. Die Art und Weise, wie er sich selbst präsentiert, die Art und Weise, wie er die Projekte vorstellt. All diese Kombinationen von interessanten und erzählerischen Elementen in seinen CDs, oder wie er in Konzerten klassisches und neues Repertoire zusammenbringt. Er ist also eine Art perfekter Solist für unsere Zeit.
Wir sind Co-Auftraggeber von Adams’ Klavierkonzert «After the Fall». Was ist das Besondere an diesem Werkauftrag?
IS Als Co-Auftraggeber bringen wir ein neues Stück an bestimmte Orte. Und dieses Mal haben wir eine ganz besondere Situation, dass wir sogar mit Víkingur Ólafsson auf Tournee gehen. Wir präsentieren zunächst im Januar in Zürich die Schweizer Erstaufführung, und dann im März reisen wir damit weiter in die Hamburger Elbphilharmonie für die deutsche Erstaufführung mit diesem Stück. Und wenige Tage später spielen wir in Paris die französische Erstaufführung. So haben wir auch gemeinsam die Chance, es öfter aufzuführen, um tiefer in so ein neues Stück einzusteigen. Auch für das Orchester ist das wichtig. Ich mag diese Idee, denn je präziser man Adams’ Musik aufführt, desto mehr entdeckt man. Und für uns ist es eine Reise mit einem Komponisten, den wir sehr mögen.
Wie würdest du die Verbindung zu John Adams beschreiben – auch nachdem ihr hier in Zürich schon gemeinsam gearbeitet habt, Paavo?
PJ Ich muss sagen, dass die Erfahrung, mit John Adams zu arbeiten, ihn zu treffen, ihn während unserer Aufnahmesitzungen hier zu haben und ihn wirklich als starken Unterstützer und Verbündeten des Orchesters zu wissen, mich verändert hat. Die Art und Weise, wie ich ihn betrachte und wie ich seine Musik höre. Er war schon immer ein bedeutender Komponist für mich. Aber ich war sehr berührt von der Tatsache, dass er so sehr mit dem Orchester und dem ganzen Prozess der Aufnahme verbunden war. Er hat das Tonhalle- Orchester Zürich dirigiert und war sehr beeindruckt von diesem Orchester. Persönliche Motivation entsteht durch den persönlichen Kontakt und die persönliche Interaktion mit den Musiker*innen, mit denen man arbeitet, insbesondere mit einem Giganten wie John Adams. Das alles im Hinterkopf zu haben und sich dieser Verbindung bewusst zu sein, motiviert uns natürlich noch mehr, wirklich gut an seiner Musik zu arbeiten. Mit einem Saisongespräch zusätzlichen Enthusiasmus für diese Erstaufführungen. Alle Menschen brauchen menschliche Motivation, und der persönliche Kontakt mit jemandem wie John Adams macht einen grossen, einen wirklich grossen Unterschied.
Wir haben noch eine zweite Fokus-Künstlerin in dieser Saison, Golda Schultz. Paavo, du wirst mit ihr die «Vier letzten Lieder» von Strauss aufführen ...
PJ Golda ist wunderbar. Absolut wunderbar auf jeder Ebene. Sie ist eine fantastische Sängerin und ein wunderbarer Mensch – und wir sind seit langem befreundet. Wir kennen uns wirklich schon lange.
Erinnerst du dich, bei welcher Gelegenheit ihr euch zum ersten Mal getroffen habt?
PJ Sie war Marcelline in unserem «Fidelio» mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, als wir die Oper auch in Japan aufgeführt haben. Das war im Jahr 2013. Von da an waren wir sehr gut befreundet. Und seitdem hat sie sich von einer relativ unbekannten jungen Sängerin zu einem echten Weltstar entwickelt, mit grossem Erfolg an der Metropolitan Opera in New York und an vielen anderen Orten der Welt. Sie hat einfach eine wunderbare Stimme und Musikalität – und ist ein grossartiges Gesamtpaket.
Wo hast du sie zum ersten Mal gehört, Ilona?
IS Ich kenne sie seit 2015, als sie die Sophie im «Rosenkavalier» in Salzburg gesungen hat, und ich war wirklich begeistert. Völlig überwältigt. Sie hat alles überstrahlt. Mit ihrer wunderschönen Stimme, aber auch mit ihrer Persönlichkeit. Und nun bei uns mit Strauss, «Vier letzte Lieder», das ist ein «match». Ein «perfect match»!
Dann ist natürlich Mahler ein wichtiges Thema. Mit den Sinfonien Nr. 1 und Nr. 7 setzen wir unseren Mahler-Zyklus fort. Warum gerade mit diesen beiden, Paavo?
PJ Wir haben diskutiert, wie wir diesen langen Zyklus am besten strukturieren können. Die Erste und die Siebte eignen sich deswegen als Fortsetzung nach der Fünften, weil sie aus sehr unterschiedlichen Perioden seines Lebens und künstlerischen Schaffens stammen. Wir haben also wirklich zwei verschiedene Modelle: den jungen Mahler und den späten Mahler, der nach der Fünften dann schon unglaublich komplex, dunkler und philosophischer wird. Ich denke, das ist ein guter Kontrast. Wir nehmen diese Werke auch mit auf Tournee, sodass wir immer weiter mit dem Werk verwachsen – bis zur CD-Aufnahme in Zürich.
IS Noch vor unserer Saisoneröffnung spielen wir Mahlers Erste beim Lucerne Festival. Und das ist eine sehr wichtige Gelegenheit für uns, zu zeigen, dass wir jetzt in der Saison 2023/24 den Mahler-Zyklus begonnen haben, alle neuen Facetten und Farben des Orchesters zu zeigen. Auch nach dem wunderbaren Debüt von Paavo mit dem Lucerne Festival Orchestra im Jahr 2023 – das war ebenfalls mit Mahler, mit der Dritten Sinfonie. Und die Sinfonie Nr. 7 nehmen wir in dieser Saison mit nach Spanien. Dort waren wir noch nicht gemeinsam mit Paavo. Das wird eine schöne Premiere.
Auch in Zürich gibt es mit Paavo eine Premiere – und diesmal nicht in der Tonhalle.
IS Ja, und zwar bei tonhalleAIR auf dem Münsterhof, also im Herzen von Zürich. Es geht um ein Open-Air-Konzertwochenende. Und beides hängt vielleicht sogar zusammen. Denn die Erfolge, die wir auf internationalen Tourneen erzielen, die Sichtbarkeit in der Szene, die viel beachteten Konzerte in der Tonhalle – all das möchten wir teilen; wir möchten etwas zurückgeben an unser Publikum. Deswegen möchten wir ab dieser Saison alle zwei Jahre tonhalleAIR veranstalten – als grosses Musikfest über zwei Tage hinweg. Was uns verbindet, ist die Freude an Musik. Und das meinen wir auch so. Denn wir sind zwar die Gastgeber und geben auch ein Abendkonzert mit Jean-Yves Thibaudet. Bei anderen Konzerten spielen wir aber side-by-side, also wirklich Seite-an-Seite gemeinsam mit dem Zurich Jazz Orchestra oder unserem Junior Music Partner JSOZ. Auch die Jüngsten werden beim umfangreichen Superar Suisse-Programm zum Zug kommen, es wird gemeinsam gesungen. Wir hoffen auf ein wunderbares, klangvolles Sommerfest. Aber am Ende zeigt es vor allem, dass wir in einem Boot sitzen und dass die grosse Freude an der Musik das schönste Ziel ist, das wir hier teilen können.
Schostakowitschs Werke handeln vom menschlichen Geist, vom Leiden, vom Triumph darüber und von unerwartbarer Schönheit. Die Musik beschreibt also genau die Situation, die wir in der Welt gerade erleben. Genau jetzt.
Paavo, was kann tonhalleAIR, was andere Konzerte nicht können?
PJ Zunächst einmal ist es für jeden zugänglich. Es findet an einem Ort statt, an dem es jeder hören kann. Es gibt keine Einschränkung. Natürlich ist es auch kein so grosses Problem, in ein Konzerthaus zu kommen. Aber es gibt Menschen, und gar nicht so wenige, die sind ein bisschen unsicher. Und sie stellen sich viele Fragen, was sie anziehen sollen, wie sie sich verhalten sollen und was sie tun sollen. Unter freiem Himmel ist es völlig offen, gleichberechtigt. Es gibt keine Barrieren. Es gibt keine, oder besser gesagt, andere Traditionen oder Erwartungen. Es ist einfach Musik für alle! Und ich denke, das ist ein grosses Plus. Es ist etwas, das die Leute auch aus der Ferne hören können. Sie müssen nicht in der Nähe sein. Wir freuen uns aber natürlich auch, wenn sie ganz in unserer Nähe sein wollen.
Was ist mit unseren Debüts in der Tonhalle, Ilona?
IS Ja, es gibt eine Menge Premieren auf der Bühne. Und ich beginne mit den Jüngsten in der Reihe, in unserer Série jeunes: Da wird eine wunderbare Harfenistin, Tjasha Gafner, zu erleben sein. Sie ist Schweizerin, und ich denke, gerade mit diesem Instrument ist es so schwierig, auf unseren Markt zu kommen – ich freue mich wirklich sehr darauf. Ein anderer Name ist Vivi Vassileva. Als Martin Grubinger seine Karriere auf der Bühne als Solo-Perkussionist beendet hat, fragte ich ihn, wer denn da nachkommen würde. Und er sagte zu mir: «Bevor ich die Bühne verlasse, musst du versprechen, dass du dir Vivi anschaust.» Vivi und ich haben uns im April 2023 kennengelernt, und ich war sofort überzeugt, dass sie eine ganz besondere Rolle als Perkussionistin in der Musikwelt übernehmen kann.
Und mit dem Tonhalle-Orchester Zürich?
IS Ich habe bereits Eva Ollikainen erwähnt, aber auch Nathalie Stutzmann wird ihr Debüt bei uns geben. Petr Popelka kommt zusammen mit Antoine Tamestit. Tugan Sokhiev gibt ein spätes Debüt – was ich fast nicht glauben konnte. Auch André de Ridder dirigiert endlich und zum ersten Mal bei uns – Zeitgenössisches bei SONIC MATTER, inklusive «Metamorphosis » von Anna Thorvaldsdottir.
Bei den Dirigent*innen gibt es in dieser Saison noch ein besonderes Wiedersehen – nämlich mit allen vier Assistant Conductors von Paavo seit wir diese Position 2019 eingeführt haben.
IS Das ist tatsächlich etwas, das wir beide, Paavo und ich gemeinsam, unterstützen und verfolgen: die Entwicklung unserer Assistant Conductors. Und wenn wir sie einladen für das Orpheum-Konzert, in diesem Fall Holly Choe, dann verfolgt das genau dieses Ziel. Auch Izabelė Jankauskaitė und Felix Mildenberger kehren für die Familienkonzerte zurück zu uns. Und Margarita Balanas, Assistant Conductor seit 2023/24, dirigiert in einem Familienkonzert ein Stück von Anna Thorvaldsdottir. Das ist also etwas, das wir sehr bewusst steuern. Wir versuchen, sie so zu begleiten und auch ihre nächsten Schritte zu fördern.
PJ Das ist liegt auch mir sehr am Herzen.
Es gibt auch einen Komponisten, der dir sehr am Herzen liegt, Paavo – Schostakowitsch. Das Cellokonzert, die Sinfonien Nr. 6 und 10 stehen auf dem Programm. Warum erscheint uns seine Musik so zeitgemäss, so unmittelbar?
PJ Abgesehen von der Tatsache, dass er wohl einer der grössten Komponisten des 20. Jahrhunderts ist, oder der Musikgeschichte allgemein ... Ich habe natürlich eine besondere Verbindung zu seiner Musik, weil ich ihn kennengelernt habe. Er kam nämlich immer nach Pärnu, dorthin, wo ich heute mein Sommerfestival habe. Denn er war ein sehr enger Freund meiner Eltern. Schostakowitsch war jemand, der über die Realitäten schrieb, die Realitäten seiner Zeit – in seiner besonderen geografischen Lage, der Sowjetunion. Er erlebte – und dokumentierte – die Brutalität des mentalen und physischen Terrors, der in Stalins Sowjetunion alltäglich war. Und das ist etwas, das sich jetzt wiederholt. Und so könnte die Musik über die Art von Diktator geschrieben worden sein, der die Welt und die Menschen in seinem eigenen Land unter unglaublicher Angst hält und Millionen von ihnen brutal ermordet. Das Interessante daran ist, dass es paradoxerweise von einem russischen Komponisten erzählt wird. Er war einer derjenigen, die uns das Vermächtnis hinterlassen haben, damit wir uns für immer an die Schrecken dieser Zeit erinnern. Und die Musik von Schostakowitsch ist ein grossartiges Beispiel dafür. Diese Werke handeln vom menschlichen Geist, vom Leiden, vom Triumph darüber und von unerwartbarer Schönheit. Menschen finden immer noch Wege zu existieren, Musik zu machen, zu lieben und ihre Kinder grosszuziehen – auf etwas Schönes und Sinnvolles zu hoffen, auf ein wenig Licht. Die Musik von Schostakowitsch beschreibt also genau die Situation, die wir in der Welt gerade erleben. Genau jetzt.
IS Deswegen haben wir beschlossen, im Schostakowitsch-Jahr einen zweiteiligen Streichquartett-Zyklus mit allen seinen 15 wunderbaren Streichquartetten zu realisieren. Das ist ein Vermächtnis für sich. Schon lange vor den zusätzlichen weltpolitischen Verschiebungen stand fest, dass das Jerusalem Quartet diesen gesamten Zyklus in dieser und der nächsten Saison spielen wird. Aber die Wahrheit in diesen Meisterwerken ist etwas, das so menschlich ist. Und ja, es hat etwas sehr Berührendes, gerade jetzt. Vielleicht viel mehr noch als vor einigen Jahren.