Mit herzlichen Grüssen aus der Tonhalle
Richard Kessler ist Bratschist im Tonhalle-Orchester Zürich. Und er ist akribischer Sammler von Schätzen rund um die Geschichte seines zweiten Daheims, der Tonhalle. Ein Augenschein.
Eine Obstschale, Besteck und stapelweise Bücher. Ordner voller Kopien und Postkarten – 400 an der Zahl. Ein Zylinder und ein Spazierstock. Skurrile und hinreissende Sachen, die Richard Kessler im Konzertfoyer vor sich aufbaut und präsentiert. Etwa ein Guckkasten aus der Zeit um 1900, jener Zeit, die den Bratschisten so fasziniert. Warum eigentlich? Weil er sich gerne Geschichten ausdenkt, wie die Menschen damals wohl gelebt haben, als 1895 die Tonhalle Zürich eröffnet wurde.
Und weil er architekturhistorisch interessiert ist. Ihm scheint die Antwort geradezu offensichtlich: «Dieses Haus hier und seine Geschichte liegen mir am Herzen», sagt er, immerhin spiele er seit mehr als einem Vierteljahrhundert im Orchester. Geweckt wurde sein Sammeltrieb aber schon in seinen ersten Jahren im Orchester, als er noch neu in Zürich war – und zwar durch eine Entdeckung im Schachzimmer, einem Aufenthaltsraum des Orchesters. Da hing eine Ansicht des längst abgerissenen Trocadéro-Baus. Richard Kessler fragte einen Kollegen, was denn das für ein hübsches Gebäude sei, und machte sich fortan immer regelmässiger auf zum samstäglichen Flohmarkt auf dem Bürkliplatz und auf Spurensuche in Bibliotheken, Antiquariaten, bei Versteigerungen, heute auch im Internet.
Skyline von damals
Die Objekte, die Richard Kessler bei sich hat, sind alle verbunden mit den verschiedenen Etappen der Tonhalle Zürich: Die Obstschale zeigt die beiden Türmchen des Baus von 1895, das Besteck enthält eine Gravur des früheren Kongresshaus- Restaurants, die Bücher befassen sich mit der Architekturgeschichte des Hauses. «Die Theaterbauten von Fellner und Helmer» ist eines davon, er blättert im Nu das Gesuchte heraus, das Werk ist sehr präsent. Die Frau eines der beiden Architekten sei bei einem Opernbrand in Wien dabei gewesen, bei dem es bei der Flucht des Publikums zu einer Panik gekommen sei. Daher seien die Türen zum Tonhalle-Saal von innen nach aussen geöffnet, eine für die damalige Zeit moderne Sicherheitsmassnahme.
Die Kopien, die Richard Kessler in Ordnern sauber abgelegt hat, fertigte er im Baugeschichtlichen Archiv an. Sie zeigen verschiedene Aussen- und Innenansichten der Tonhalle und des Kongresshauses, die Entwicklung jedes Winkels lässt sich so mit ein bisschen Geduld nachverfolgen. Da wurden Feste gefeiert im Pavillon, «der war akustisch wohl eine Katastrophe, ein ovaler Saal, ganz schwierig». Richard Kessler blättert ein Bild hervor, auf dem ein Tuch an der Decke zu erkennen ist – «zur Verbesserung der Akustik». Ein Bild im kleinen Saal vor dem Abbruch zeigt, wie Hausrat verkauft wurde, «vielleicht lag mein Besteck da auch herum?» Die Postkarten faszinieren ihn besonders. Manche sind mit Texten versehen, die nicht etwa von Konzerten in der Tonhalle berichten, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern manchmal schlicht eine Terminvereinbarung oder einen Gruss aus Zürich darstellen. «Rotes Schloss, Weisses Schloss, Tonhalle. Welche Skyline!» Diese sei einfach das Wahrzeichen Zürichs gewesen, vermutet Richard Kessler – und somit auf Postkarten in rauen Mengen verfügbar.
Auf den frühen Ansichten ist auch das alte Tor zu sehen, das nun gegenüber dem Haupteingang der Tonhalle seinen neuen Ort gefunden hat.
Ausflug in die Vergangenheit
Auf den Ansichten sind frühe Autos zu sehen, flanierende Menschen in Kleidern, die auf die Zwanzigerjahre hinweisen. Richard Kessler sagt, er würde gerne einmal für ein paar Stunden in diese Zeit entwischen, vielleicht am gesellschaftlichen Leben rund um den Konzertbetrieb teilnehmen auf der Terrasse von damals: «Einer hat mir erzählt, seine Grosseltern hätten sich dort kennengelernt, ist das nicht schön?» Besonders beliebt und oft anzutreffen sind Postkarten aus der Zeit der Seegfrörni 1929, da waren die Türmchen der alten Tonhalle noch da, auch deshalb gehören sie zu Richard Kesslers Lieblingsstücken: «Mit der Moderne bin ich nämlich ein wenig auf Kriegsfuss.» Den Elementen im Stil des Neuen Bauens, denen die alte Tonhalle weichen musste, dieser Art von Ökonomisierung kann er wenig abgewinnen.
Bühnenmenschen, zeitlich versetzt
Auf den älteren Ansichten vom General- Guisan-Quai her ist auch das alte Tor der Tonhalle Zürich zu sehen, das nun gegenüber dem Haupteingang seinen neuen Ort gefunden hat, was Richard Kessler besonders freut: «Ich finde es so schön, wie man das entrostet hat, dass man Geld und Liebe investiert hat – das ist Wertschätzung.» Auf Bildern glaubt er fehlende Büsten zu erkennen, die auf einer früheren Ansicht drauf waren: «Wo die wohl sind? Auf irgendeinem Kaminsims?» Da müsse noch viel mehr Material vorhanden sein, dem es ähnlich ergangen sein könnte wie dem Tor. Vom ehemaligen Geschäftsführenden Direktor Jürg Keller etwa weiss Richard Kessler, dass dieser zur Pensionierung als Andenken eine Flügeltür vom Vestibül in den ersten Stock bekommen habe.
Hinter seiner Sammelfreude vermutet Richard Kessler noch einen weiteren Grund, der mit dem Spazierstock und dem Zylinder zu tun hat. Sie gehörten seinem Grossvater, den er nicht mehr persönlich kennengelernt hat. Auch er hiess Richard Kessler. Er wurde 1875 in Berlin geboren, er war 60, als Richard Kesslers Vater zur Welt kam, und erzählte immer viel von der Welt, in der er gelebt hat. Er wurde 1875 in Berlin geboren und war 60, als Richard Kesslers Vater zur Welt kam; er erzählte immer viel von der Welt, in der er gelebt hat. Berlin um die Jahrhundertwende, auch er ein Bühnenmensch, aber eher in Sachen Text: Der Grossvater hat Libretti für Operetten geschrieben. Er war viel unterwegs, und Richard Kessler ist sich sicher, dass er mit dem Zylinder auf der Bühne gestanden hat. Berlin war ein Zentrum für Operetten, der Grossvater habe viele Stoffe bearbeitet, umgeschrieben oder selbst komponiert; er habe mit Leuten wie Walter Kollo und Eduard Künneke gearbeitet, sei überdies eng mit Christian Morgenstern, Rainer-Maria Rilke und dem Schauspieler Max Reinhardt befreundet gewesen. Die Geschichten rund um diesen Mann lassen Richard Kessler besonders gerne an die Zeit des Baus der alten Tonhalle denken.
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