Foto: Kaa Linder / SRF
Reportage «Connect»

«Wo sind eure Sterne?»

In der vergangenen Saison fanden im Vereinssaal der Tonhalle Zürich erstmals Tanztrainings für Menschen statt, die mit Parkinson oder Multipler Sklerose leben. Wir haben mitgetanzt.

Susanne Kübler

Freitagnachmittag, 14.30 Uhr. Im Vereinssaal sitzen rund dreissig Frauen und Männer jeden Alters im Kreis und bauen ein Universum. Die Tanztrainerin Clare Guss-West macht vor, wie es geht: Mit spitzen Fingern platziert sie imaginäre Sterne um sich herum, da oben kommt einer hin, da ganz weit links ebenfalls, und wenn sie einen unter den Stuhl setzt, lachen alle.

Wir sind bei «Connect», einem Projekt, das im vergangenen Herbst ausgeschrieben wurde als «Tanztraining für Menschen mit neurologischen Herausforderungen». Diese «Herausforderungen» heissen konkret Parkinson oder Multiple Sklerose, aber im Training spielt es keine Rolle, wer mit welcher Krankheit lebt. Es ist auch egal, ob man freihändig, mit Gehstöcken oder mit Rollator unterwegs ist, ob man zu den Teilnehmenden oder zu den Helfenden gehört. Nur der Vorname zählt, den sich alle aufs T-Shirt oder das Hemd geklebt haben.

Es ist, um im Bild dieses Nachmittags zu bleiben, ein eigenes Universum, das hier zusammenfindet. Der Urknall dazu fand im Opernhaus Zürich statt, wo die Ballettdirektorin Cathy Marston in ihrer Choreografie «The Cellist» die Geschichte der Cellistin Jacqueline du Pré nacherzählte, die mit nur 42 Jahren an Multipler Sklerose starb. Cathy Marston kennt die Krankheit aus der Nähe, ihre Mutter hat MS. Und so hat sie Verbündete gesucht, um die Kunst in den Alltag von Betroffenen zu verlängern.

Gemeinsam Körperskulpturen bauen – das geht hier ganz selbstverständlich, wenn die Geschichte es verlangt. (Foto: Kaa Linder / SRF)
Der Cellist Mattia Zappa ist einer der Musiker, der die «Connect»-Trainings begleitete. (Foto: Kaa Linder / SRF)
Stehen oder sitzen? Das spielt hier keine Rolle. (Foto: Kaa Linder / SRF)
Viele Teilnehmende erzählen von einer wiedergefundenen Leichtigkeit. (Foto: Kaa Linder / SRF)
Das Tanzen kann die Balance, die Beweglichkeit und die Koordination verbessern. (Foto: Kaa Linder / SRF)

Das Tonhalle-Orchester Zürich stieg ein, auch die freie Performance-Gruppe The Field und die Dance & Creative Wellness Foundation der ehemaligen Tänzerin Clare Guss-West. Bei der Parkinson Gesellschaft und der MS Gesellschaft Schweiz war man begeistert, in der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich interessiert. Denn der Ansatz ist neu: Erstmals kommen Menschen mit verschiedenen Diagnosen für ein solches Tanztraining zusammen. Damit vergrössert sich das Altersspektrum, weil Parkinson in der Regel später auftritt als MS; und der Fokus liegt nicht so sehr auf dem Verlauf einer spezifischen Krankheit. «Wir wollen die Kreativität der Einzelnen fördern, ganz unabhängig davon, welche Diagnose sie haben», sagt Clare Guss-West.

Als das Projekt dann zur Ausschreibung kam, war die Nachfrage weit grösser als vermutet: Neben den 60 Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung von Zürich, die in zwei Gruppen in der Pilotphase dabei waren, stehen weitere 85 auf der Warteliste. Auch das Medieninteresse ist gross, immer wieder begleiteten TV-Kameras, Radiomikrofone oder Notizblöcke die Trainings.

Energie schmeissen

Zurück in den Vereinssaal. Wir sitzen immer noch auf unseren Stühlen, aber nun ist eine gute Balance gefragt, denn neben den Armen strecken wir auch die Beine in alle Richtungen – unser Universum wächst. Und es klingt: Denn in der Mitte des Kreises sitzt Diego Baroni, Bassklarinettist im Tonhalle-Orchester Zürich. Manchmal spielt er Bach, meist improvisiert er, übersetzt die Gesten und Geschichten von Clare Guss-West in Töne. Fliessende Bewegungen klingen anders als zackige, und wenn die eine Hälfte der Tanzenden der anderen die geballte Energie des Alls zuschmeisst, holt auch die Bassklarinette weit und wuchtig aus.

Dass die meisten der elf Trainings in der Pilotphase mit Live-Musik stattfanden, gehört zu den Besonderheiten von «Connect». Vor Diego Baroni sass jeweils der Cellist Mattia Zappa in der Mitte, und die Teilnehmenden schwärmen von beiden. Er habe die Instrumente so richtig in sich gespürt, sagt einer, «ich habe sie noch nie aus der Nähe spielen hören». Eine andere fügt an, dass sie von den Tönen «getragen» werde, «sie geben mir eine Art Halt und Sicherheit». Für die Musiker ist dieses Projekt ebenfalls eine besondere Erfahrung, «ein magischer, berührender Moment», wie Mattia Zappa sagt. Auch Diego Baroni hat sich jeweils gefreut auf diese Freitagnachmittage; als erfahrener Jazzmusiker ist er das Improvisieren gewohnt, «aber es war doch immer wieder überraschend, was sich entwickelt hat». Die Live-Musik trägt viel dazu bei, diese Tanztrainings dort zu verorten, wo sie hingehören: Es sind keine Therapiestunden, die Teilnehmenden sollen sich nicht als Patient*innen fühlen. «Sie sind Tänzerinnen und Tänzer, nicht mehr und nicht weniger», sagt Clare Guss-West.

Respekt und Wärme

Aber natürlich ist es kein Zufall, dass bei diesem Projekt ausgerechnet getanzt wird. Denn wissenschaftlich ist längst belegt, wie viel das Tanzen bei Krankheiten wie Parkinson und MS bewirken kann – mehr noch als andere Sportarten. Motorische Abläufe, die im Alltag stocken, können dank des vorgegebenen Rhythmus wieder flüssiger werden. Auch die Beweglichkeit, die Koordination und das Gleichgewicht können sich durch das Tanzen verbessern. Verschiedene medizinische Expert*innen gehen davon aus, dass es sogar die Entwicklung der Symptome verlangsamen kann. Bei Krankheiten, für die es nach wie vor keine Heilung gibt, ist das umso wichtiger.

«Es begegnen sich hier alle mit sehr viel Respekt und Wärme, die Teilnehmenden wie auch die Leitenden.»

«Connect»-Teilnehmende erzählen denn auch von einer wiedergefundenen Leichtigkeit, einer besseren Körperhaltung oder davon, wie sicher und mutig sie nach einem solchen Training unterwegs sind. Eine Tänzerin hat sich nach Jahren erstmals wieder ohne Gehstock aus dem Haus gewagt. Vor allem aber hört man in Gesprächen am Rand der Veranstaltung oder während der Kaffeepause immer wieder, dass man sich hier «nicht krank» fühle. «Man kann frei sein, denn es spielt keine Rolle, was man noch kann oder was eben nicht mehr geht», sagt eine Tänzerin. «Es begegnen sich hier alle mit sehr viel Respekt und Wärme, die Teilnehmenden wie auch die Leitenden.»

Zum Zusammenhalt in den beiden Gruppen hat auch beigetragen, dass man neben den eigentlichen «Connect»-Trainings gemeinsam Proben besuchte: zum Ballett «The Cellist» im Opernhaus, zum multimedialen Konzert «Electric Fields» in der Tonhalle. Das Tanzprojekt ist auch eine Einladung, mit anderen zusammen Dinge zu unternehmen, Kultur zu geniessen und die eigenen Einschränkungen für einen Moment zu vergessen.

Polonaisen im All

In den Trainings werden diese Einschränkungen zur Kenntnis genommen – mehr nicht. Man merkt es nach der Kaffeepause: Die meisten Stühle wurden inzwischen weggeräumt, wer kann, steht nun verteilt im Raum. Die anderen sitzen in der Nähe von Diego Baroni, sozusagen als stabile Atome in diesem Universum, in dem sich nun die Elemente in Bewegung setzen.

Jeweils vier Tänzer*innen halten sich an den Händen, Clare Guss-West macht die Schritte vor: nach rechts geht es zuerst, in leichten, aufrechten Bewegungen, «und bitte nur so schnell, dass alle mitkommen». Kreuz und quer bewegen sich die Gruppen durch den Raum, wie kleine Polonaisen, bis die Musik stoppt. Dann stellt man um auf links, die Person am anderen Ende der Kette geht nun voran. Oder hängt sich auch kurz entschlossen bei der nächsten Gruppe an, «weil es so ganz freihändig schwierig ist». «Atomfusion», kommentiert Clare Guss-West, wieder wird gelacht.

Dass sie so konsequent bei ihrer Geschichte bleibt, gehört zum Konzept der Trainerin, «man nennt das ‹external focus of attention›». Diesmal ist dieser Fokus auf das Universum gerichtet, an anderen Nachmittagen haben die Tänzer*innen imaginären Löwenzahn gepflückt oder inexistente Pullis ausgezogen. Solche Geschichten und Visualisierungen helfen dabei, Bewegungen zu lernen, die im Laufe des Trainings allmählich herausfordernder werden: «Wenn die Tanzenden ihre Aufmerksamkeit auf das lenken, was hier in der Fantasie gestaltet wird, verbessert sich die Bewegungsqualität, es beeinflusst den Atem, weckt die Sinne.» Und es ermöglicht eine Nähe, die man im Alltag nicht gewohnt ist: Sich an den Händen halten, gemeinsam Körperskulpturen bauen – das geht ganz selbstverständlich, wenn die Geschichte es verlangt.

Wie weiter?

Am Ende setzen wir uns noch einmal hin. «Wo sind eure Sterne?», fragt Clare Guss-West, «die müssen wir jetzt wieder einsammeln». Noch einmal strecken wir uns, pflücken diese Sterne vom Himmel, versorgen sie im eigenen Körper. Dort sollen sie im Alltag an dieses Universum erinnern – und vielleicht über die eine oder andere Hürde hinweghelfen.

Damit das gelingt, damit ein solches Tanztraining Wirkung zeigt, braucht es Kontinuität; auch das hat die Forschung gezeigt. Für die Sommerpause erhielten die Teilnehmenden deshalb Videos, damit sie zu Hause weitertanzen können. Und ab Oktober wird «Connect» fortgeführt, mit neuen Schwerpunkten, neuen Bewegungen, neuen Musiker*innen. Etliche Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich haben bereits angekündigt, dass sie sich gerne bei der Fortsetzung des Projekts engagieren würden.

Und das «Connect»-Universum wird weiterwachsen: In der neuen Saison wird eine dritte Gruppe dazukommen, sodass künftig 90 Menschen dabei sein können. Zudem soll das Projekt durch Neurologinnen des Universitätsspitals Zürich wissenschaftlich begleitet werden. Die Vorbereitungen für eine Studie laufen.

Mehr zu Connect

veröffentlicht: 26.08.2024

Tags