«Grad so, als würde ich neuen Schnee betreten»
Gespannt wartet Alice Sara Ott auf die Partitur, die Bryce Dessner für sie schreibt. Es ist das erste Klavierkonzert, das sie uraufführen wird.
Alice Sara Ott ruft aus ihrer Münchner Wohnung an, hat aber an sich kaum Zeit: Konzerte bald in Frankreich, England, Deutschland und Spanien. Und doch scheint keine Uhr zu ticken, ruhig und ausführlich redet sie von Dingen, die sie beschäftigen, denkt laut und sagt: «Wir alle optimieren fleissig. Aber was denn wirklich und wozu?» Dann wird es in der Leitung still. «Es lastet ein gewichtiger Druck auf uns.»
Geboren am 1. August 1988, ist Alice Sara Ott in München als Kind einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters aufgewachsen. Die Mutter versuchte, liebevoll zu vermeiden, dass ihre beiden Töchter wie sie Pianistinnen würden, um sie vor der Härte des Musikerinnen-Daseins zu verschonen. Die Eltern setzten in der Erziehung auf die Lehren des Buddhismus und auf Geborgenheit. Alice hat, wie auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester Mona Asuka, dennoch das Leben am Klavier gewählt.
Längst werden die beiden nicht mehr als Wunderkinder gepriesen, längst sind aus den beiden Frauen erfolgreiche Pianistinnen geworden. Bereits mit 12 Jahren trat Alice Sara Ott in die renommierte Klavierklasse von Karl-Heinz Kämmerling am Salzburger Mozarteum ein, reiht seither Preis an Preis und Album an Album – seit 2008 ist sie als Exklusivkünstlerin bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag.
Schmetterling mit Zauberwürfel
Im Januar kehrt sie nun zurück in die Schweiz. Alice Sara Ott, das Sommerkind mit Seitenprojekten in allerhand Bereichen des Designs. Sie, die am liebsten barfuss spielt, aber allein beim Gedanken an den Winter kalte Hände bekommt. So wird sie ihren Rubik's Cube, einen dieser bunten Zauberwürfel, hinter der Bühne in Griffnähe halten, um ihre Hände aufzuwärmen, oder aber ihre Spielkonsole, sie wirft die Titel einiger Videogames ins Gespräch. «Finger bewegen, Fokus finden», das funktioniere mit den beiden Hilfsmitteln zuverlässig.
Dann wird sie sich an den Flügel der Tonhalle Zürich setzen, erstmals, seit der Saal renoviert wurde. Überhaupt ist es lange her, bald zwanzig Jahre, seit sie unter David Zinman mit dem Tonhalle-Orchester Zürich Ravel spielte. Fragt man Menschen, die ihr damals hinter und auf der Bühne begegnet sind, hört man von Bescheidenheit, sie sei herzlich und präsent und doch von einer anderen Welt, «ein Schmetterling in der Luft», wie der Technische Leiter von damals erzählt.
Mut zu mehr Verwundbarkeit
Seither ist viel passiert in Alice Sara Otts Leben: 2019 gab die Star-Pianistin im Alter von 30 Jahren inmitten ihrer rasanten Karriere bekannt, dass sie an Multipler Sklerose (MS) erkrankt sei. Zwei sogenannte Schübe, die mit Lähmungsgefühlen einhergingen, läuteten grosse Angst und eine Reihe von Abklärungen ein. Ein dritter Schub ist nicht hinzugekommen. «Es geht mir heute gut», sagt sie, dankbar, dass sie keine Einschränkungen am Klavier hinnehmen muss, keine Einbussen in ihrer technischen Fertigkeit spürt und offen gegenüber jedem Repertoire ihren Weg weitergehen kann.
Sie wird von Orchestermitgliedern auf ihren Zustand angesprochen und tauscht sich gern mit Menschen mit ähnlichem Schicksal aus. «Medial wurde ich zur MS-Pianistin stilisiert, das hat den Blick von aussen stark verändert.» Dabei wollte und will sie weder Mitleid noch Aufmerksamkeit über ihre Krankheit. «Mein eigener Wissensstand war zum Zeitpunkt der Diagnose mehr als lückenhaft und die Forschung schon zwanzig Jahre weiter.» Daher will sie Mut machen und zeigen, dass MS nicht wie ein Damokles-Schwert über Lebensplänen hängen muss, dass es trotzdem in Ordnung ist, Angst zu haben, dass die Medizin grosse Fortschritte macht und dass Offenheit gegenüber menschlicher Verwundbarkeit allen hilft.
Nachtruhe trotz Klavier
Alice Sara Otts Krankheit wurde zu einem sehr frühen Zeitpunkt festgestellt, was ihr dank guter medikamentöser und ärztlicher Betreuung erlaubt, ihr Leben zu führen wie bisher, wenn auch mit Pausen: «Ich habe gelernt, hinzuhören, wenn mein Körper mir Signale sendet.» Es sei in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen, innezuhalten, Ruhe für sich einzufordern. Es werde als Schwäche gewertet, wenn man sich für einen Moment aus dem Getriebe herausnehme. «Aber das Leben zahlt es uns heim, wenn wir Stress wegwischen und tun, als wäre er nicht da. Das gilt für gesunde und für kranke Menschen», sagt sie, «es gilt für uns alle.» Dafür stehe sie ein, deswegen rede sie über ihre Krankheit: Um mehr Platz für Rückzug einzufordern.
Sie will auch ihren Nachbarn Ruhe gönnen und hat sich für eine gut isolierte Neubau- Wohnung entschieden, zumal sie gerne zu allen Zeiten übt, auch nachts; dann nutzt sie ihren kleinen Flügel elektronisch und setzt sich Kopfhörer auf.
Anfang 20 gab sie sich gern mit virtuosen Romantikern ab. Heute mag sie Mozart lieber oder Beethoven – «dosiert». Denn: «Ist es nicht mit allen Lieblingen so? Manchmal verflucht man sie, obwohl man nicht ohne sie sein möchte.» Mehr als früher geht es ihr jetzt darum, den Raum auszufüllen, Intimität zu schaffen, das Publikum zu erreichen. Selten nur hört sie selbst Musik. Wenn, dann Bach, der sie durch ihr ganzes Leben begleitet. Oder Referenzaufnahmen zur Vorbereitung, wenn sie denn vorhanden sind.
Klavierkonzert in ganzer Grösse
Wenn sie nach ihrer Tournee im Dezember wieder etwas mehr Zeit zu Hause verbringt, beginnt die Vorbereitung auf ein grosses Herzensprojekt, eins, zu dem es noch keine Referenzaufnahme gibt. Eins mit Bryce Dessner. Er ist der Gitarrist der Band The National, jener Indie-Formation, die für drei Grammys nominiert wurde, einen tatsächlich verbuchen konnte und zuverlässig auf den Listen der einflussreichsten Rockbands zu finden ist. Bryce Dessners Name poppt aber umhüllt von Lob auch in Zusammenhang mit seiner Arbeit als Komponist auf: 2023/24 hat er in dieser Rolle den Creative Chair des Tonhalle-Orchesters Zürich inne und ist gerade dabei, ein Klavierkonzert für Alice Sara Ott zu schreiben, das im Januar unter der Leitung von Kent Nagano zur Uraufführung kommt.
«Ein Klavierkonzert in ganzer Grösse für mich, das gab es noch nicht, das ist eine ganz grossartige, ganz und gar neue Welt», sagt Alice Sara Ott. Es gibt erste Noten auf dem Papier, Ideen im Kopf, Telefonate und E-Mails, getroffen haben sich die beiden noch nie. Und doch weiss sie, dass sie Bryce Dessner alles wird fragen können, dass die Zusammenarbeit grössten Spass machen wird, weil er eben dieser Typ Mensch sei: «Ich kann es kaum erwarten, ich bin ein richtig grosser Fan.» Dass gerade er ein Werk schreibe, das sie zur Uraufführung bringen dürfe, sei wunderschön.
Ihre Interpretation werde sie ganz nah entlang seiner Vision ausrichten, zumal es ja nicht so sei, dass sie sich ein Werk aussuche, um es sich zu eigen zu machen wie üblicherweise, nein, sie werde im Gegenteil versuchen, sich selbst zurückzunehmen, live, im Austausch mit dem Publikum. «Grad so, als würde ich neuen Schnee betreten», achtsam und im Jetzt, wie Alice Sara Ott es verinnerlicht hat, «zarte, erste Spuren zeichnen, um nichts vom Zauber zu zerstören.»