«Ich muss den Klang in der Hand haben»
Wie wird aus einem Talent eine Dirigentin? Izabelė Jankauskaitė studiert an der Zürcher Hochschule der Künste – und ist aktuell Assistant Conductor von Paavo Järvi. Eine Geschichte über Magie, Mut und Mentor*innen.
«Magic, magic, magic»: So beschreibt die 24-jährige Litauerin Izabelė Jankauskaitė den Moment, als sie beschloss, Dirigentin zu werden. Fünf Jahre ist das her, sie besuchte damals ein Gymnasium mit Musikschwerpunkt in Vilnius, sang seit langem im Chor und nahm nach einigen Lektionen in Chorleitung an einem Dirigierwettbewerb teil. Als sie dann bei diesem Wettbewerb vor dem Chor stand und die Verbindung mit den Sänger*innen spürte – «da hat es klick gemacht».
Auch Johannes Schlaefli, Izabelė Jankauskaitės Lehrer an der Zürcher Hochschule der Künste, spricht von Magie. «Izabelė hat magische Hände», sagt er, «es ist selten, dass jemand ein solches Naturtalent mitbringt für die Kommunikation von Klängen.» Von «Klangberührung» spricht er, von der besonderen Fähigkeit, den Orchestermusiker* innen die inneren Vorstellungen zu vermitteln.
Damit aus Magie ein Handwerk und aus einem Talent eine Dirigentin wird: Dafür braucht es allerdings einiges. Was ist es? Und wie lernt man es?
Vorteile nutzen, Nachteile ausgleichen
Auf diese Frage hat Schlaefli so viele Antworten wie Studierende. «Jede*r bringt etwas Besonderes mit – und muss an anderen Dingen arbeiten.» Denn das «Sortieren von Luft», wie Bernard Haitink das Dirigieren einmal beschrieben hat, ist eine komplexe Angelegenheit: Sehr feinstofflich und schwer greifbar auf der einen Seite, auf der anderen braucht es viele konkrete Kompetenzen. In der Ausbildung geht es um Schlagtechnik und Partituranalyse, Stilkenntnisse und Probenlogistik, Gehörbildung und Kommunikation, psychologisches Geschick und Selbstreflexion.
Niemand ist für all das gleichermassen begabt. Izabelė zum Beispiel, so sagt Schlaefli, sei «nicht von Natur aus ein Alphatier, das sich breit macht». Und im Unterschied zu anderen, die schon von klein auf Geige spielen und in Jugendorchestern den sinfonischen Betrieb von innen her kennenlernen, hat sie als Chorsängerin und Pianistin zunächst einmal einen Nachteil. «Aber sie lernt enorm schnell. Und sie hat Biss: Unter zwei möglichen Wegen wählt sie oft jenen, der für sie schwieriger ist.»
Beharrlichkeit und Abenteuerlust
Das fällt auch im Gespräch auf. So zurückhaltend Izabelė Jankauskaitė wirkt, so zielsicher trifft sie ihre Entscheidungen. Ein magischer Moment ist das eine; die Konsequenzen daraus zu ziehen und als Erste der Familie die Musik zum Beruf zu machen, erfordert noch einmal eine ganz andere Beharrlichkeit.
Auch Mentor*innen braucht es, Menschen, die einen ermutigen und unterstützen, mit Tipps und Kontakten versorgen, bei Proben zuschauen lassen und Feedback geben. Dirigieren lernt man nicht im stillen Kämmerlein, auch nicht aus Büchern. Wer in einer Musikerfamilie aufwächst, hat die ersten Förderer gleich zu Hause. Andere müssen sich wie Izabelė Jankauskaitė anderswo umschauen. Für sie war ihre Klavierlehrerin die erste wichtige Mentorin: «Ohne ihre Zuversicht hätte ich den Mut für diese Entscheidung wohl nicht gehabt.»
Und schliesslich gehört Abenteuerlust dazu. Izabelė tingelte zusammen mit ihrem Freund – auch er ein angehender Dirigent und ihr wichtigster Weggefährte – auf der Suche nach dem richtigen Ausbildungsort durch halb Europa. An der Zürcher Hochschule der Künste hatte sie dann das Gefühl, angekommen zu sein, «es war ein gutes Gefühl». Zunächst studierte sie Chordirigieren; aber bald setzte sie sich regelmässig in die Proben des Tonhalle-Orchesters Zürich, «da habe ich erst entdeckt, wie viele Klangfarben es gibt, wie grossartig das sinfonische Repertoire ist».
Also fing sie an, Geige zu lernen. Zwar sei sie nicht besonders weit gekommen dabei, «aber ich habe das Instrument verstanden». Zudem besuchte sie einen öffentlichen Kurs bei Johannes Schlaefli – und konnte danach in seine Dirigierklasse wechseln.
Sprung ins kalte Wasser
Viele drängen in diese Klasse, Schlaefli erhält 60 bis 80 Anmeldungen pro Jahr, maximal drei neue Studierende kann er aufnehmen. Spätestens seit seine ehemalige Schülerin Mirga Gražinytė-Tyla als Chefdirigentin in Birmingham den grossen Durchbruch schaffte, gehört er zu den international gefragtesten Dirigierlehrern. Nach seinem altersbedingten Abschied von der ZHdK in zwei Jahren wird er mit einer eigenen Akademie weitermachen. Er hat ein mittlerweile breit anerkanntes Konzept entwickelt, mit viel Gruppenunterricht, mit vielen Übungen bei Orchestern.
Denn das ist das Hauptproblem für junge Dirigent*innen: Sie brauchen ein Orchester, um weiterzukommen. Oder noch besser verschiedene Orchester, «denn was bei einem funktioniert, kann bei einem anderen schiefgehen», sagt Schlaefli. Izabelė Jankauskaitė schätzt diese Erfahrungen, «auch wenn ich es am Anfang schwierig fand, vor Musiker*innen sozusagen öffentlich Fehler zu machen». Mit einem halben Dutzend verschiedener Orchester konnte sie bisher arbeiten, «manche sind sehr offen und wohlwollend, andere reagieren zurückhaltender». Gelernt hat sie bei allen.
Seit wenigen Monaten tut sie es nun auch als Assistant Conductor von Paavo Järvi – weil sie bereit war, ins kalte Wasser zu springen. Sie hatte im Sommer 2021 seine Academy beim Festival in Pärnu besucht, und einige Zeit später erhielt sie einen Anruf, ob sie bei ihm als Assistentin einspringen könne: «Es war Samstagabend, am Montag sollten die Proben beginnen, und ich war zu Hause in Vilnius und kannte die Werke nur ungefähr.» Ein Tag blieb ihr zum Lernen und zum Organisieren der Reise nach Zürich, wo sie ihren Job so gut machte, dass sie für die Assistenz in dieser Saison angefragt wurde.
Das Dirigieren steht dabei nicht im Vordergrund, sie wird nur bei zwei Familienprogrammen selbst auf dem Podium stehen. Meistens sitzt sie sozusagen als Paavo Järvis zweites Paar Ohren in den Proben. Sie hört zu, denkt mit, klebt unzählige Post-it-Zettelchen in die Partitur, notiert sich Details zur klanglichen Balance, zu uneinheitlichen Artikulationen und falschen Tönen. In der Pause bespricht sie ihre Beobachtungen mit Järvi, «aber nicht alle aufs Mal. Ich muss auswählen, was ich thematisieren will».
Tipps und Warnungen
Wie sie das am besten macht, damit experimentiert sie gerade. Zwar hat Holly Choe, die letzte Assistenzdirigentin von Paavo Järvi, sie mit vielen Tipps versorgt, «auch mit ein paar Warnungen». Aber wie sie ihren Job am sinnvollsten ausfüllen kann, muss sie selbst herausfinden – auch dafür gibt es keine Rezepte.
Paavo Järvi weiss das. «Es gibt keine Abkürzungen auf dem Weg ins Orchester», sagt er, und er bezieht es nicht nur auf Nachwuchs-Dirigent*innen, sondern auch auf Orchestermusiker*innen. Auch sie müssen sich einfühlen in diesen Klangkosmos und seine Strukturen; die Fähigkeiten auf dem eigenen Instrument sind nur die Voraussetzung für etwas, das man allein zu Hause kaum trainieren kann. Man habe als Tonhalle-Orchester Zürich deshalb eine grosse Verantwortung, sagt Järvi: «Es ist Teil unserer Mission, jungen Musikerinnen und Musikern zu helfen.»
Das tut man auf ganz verschiedenen Ebenen. Es gibt – neben der Position von Järvis Assistant Conductor – die jährlich durchgeführte Conductors' Academy und Praktikumsstellen für Orchestermusiker*innen; für das Schnuppern im Orchestermanagement wurde ein Programm für Schülermanager*innen lanciert. In allen diesen Mentoring-Projekten geht es darum, Erfahrungen zu ermöglichen. Und vor allem die Dirigier-Assistenz garantiert darüber hinaus eine Sichtbarkeit, die im Hinblick auf die Karriere entscheidend sein kann.
Volle Agenda, gute Agentur
Holly Choe, die Vorgängerin von Izabelė Jankauskaitė, hat diese Chance nutzen können. Sie schloss neben der Assistenz ihr Studium bei Johannes Schlaefli ab und hat nun eine gut gefüllte Agenda, eine Agentur und eine Stelle als Erste Dirigentin beim Hamburger Ensemble Reflektor. Bei ihr sei alles aufgegangen, sagt Schlaefli, «sie hat zum freien Flug angesetzt».
Dass auch Izabelė abheben wird, davon ist er überzeugt. Im vergangenen Sommer hat sie in Gstaad den Neeme Järvi Prize gewonnen, «seither ist sie international auf dem Radar, auch von Agenturen». Man müsse da eher bremsen, um keinen Entwicklungsschritt auszulassen.
Izabelė Jankauskaitė hat es nicht eilig. Sie sieht sich am Anfang ihrer Reise, «es gibt noch so vieles zu entdecken, auszuprobieren, zu erarbeiten». Fragt man sie, was das Wichtigste sei, das sie in ihrer bisherigen Ausbildung gelernt habe, sagt sie: «Win the battle.» Also nicht schüchtern sein, sich nicht mit Ungefährem zufriedengeben, sondern im Austausch mit dem Orchester dranbleiben, bis der Klang so ist, wie er sein soll; bis er Teil ist von ihr und sie ihn formen kann.
«Ich muss den Klang in der Hand haben», sagt sie, «er ist mein Instrument». Die Geste, mit der sie diesen Satz unterstreicht, würde jedes Orchester als Aufforderung zu einem besonders markanten Akzent verstehen.