«Ein neues Universum»
Nach dem Tschaikowsky- und Bruckner-Zyklus widmet sich Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester Zürich den Sinfonien von Gustav Mahler. Im Interview erzählt er von menschlichen Eseln, grossen Vorbildern – und wie gelangweilte Börsenmakler sein Leben veränderten.
Paavo, warum ist es jetzt Zeit für Mahler?
Für mich fasst Mahler die gesamte Musikgeschichte zusammen, die vor ihm kam. Viele Leute haben das erkannt, Leonard Bernstein war wohl der erste, der es gesagt hat. Mahler war vielleicht wirklich der letzte grosse Sinfoniker. Wir könnten über Schostakowitsch reden, über Prokofjew. Und natürlich gibt es andere, ich möchte ihnen nichts absprechen. Aber diese Art der sinfonischen Tradition im deutschsprachigen Raum endete mit Mahler. Wobei das Wort «Ende» eigentlich nicht passt: Nach einer Aufführung von Mahlers Musik habe ich immer das Gefühl, dass es einen weiteren Schritt nach vorne gehen könnte, dass man eine weitere Ebene ausloten könnte – dieses Gefühl begleitet mich seit 15 Jahren, seit ich in Frankfurt zum ersten Mal einen Mahler-Zyklus gemacht habe. Und nun habe ich mit dem Tonhalle-Orchester Zürich Musiker*innen an meiner Seite, die diesen Schritt wirklich gehen können. Sie verstehen diese Art von Tiefe und Virtuosität und bringen das agogische Verständnis mit, um der inneren Welt von Mahler ganz nahezukommen.
Was bedeutet dieser Komponist für dich?
Als ich in Estland aufwuchs, das damals zur Sowjetunion gehörte, wurde Mahler nicht oft gespielt. Ich entdeckte ihn durch Aufnahmen, die mein Vater mit nach Hause brachte. Denn er war einer der wenigen Privilegierten, die mit russischen Orchestern ins Ausland reisen durften. Als Erstes hörten wir die 4. Sinfonie, in die ich mich sofort verliebte. Mein Vater brachte viele Versionen mit, sodass wir sie immer wieder hörten – zunächst nur den ersten Satz. Ich erkannte, wie unterschiedlich verschiedene Dirigenten das Rallentando zu Beginn umsetzten. Ich erinnere mich an George Szell und Fritz Reiner, an Karajan und Bernstein, an Furtwängler. Live habe ich Mahler dann entdeckt, als ich bereits in den USA war und am Curtis Institute of Music studierte. Plötzlich war ich von so viel Material und so vielen Informationen umgeben, es gab so viele Aufführungen, die ich mir anhören konnte. Es war eine ganz andere, eine freie Gesellschaft. Auch das verbinde ich mit Mahler.
Wie hast du dich seiner Musik dann angenähert?
Diese Frage kann man sich bei Mahler tatsächlich immer wieder stellen: Man kann seine Musik für bare Münze nehmen und sagen, schau, so ist sie geschrieben. Das ist die dynamische Bezeichnung, das ist der Text. Aber bei Mahler passiert besonders viel zwischen den Noten. Das ist der Subtext. Trotzdem muss der Text unglaublich sorgfältig studiert werden, denn Mahler war der vielleicht grösste Dirigent seiner Zeit. Als Meister seines Fachs wusste er aus eigener Erfahrung, wie man die Partitur aus der Sicht eines Dirigenten kennzeichnet. Er wusste auch, was das Orchester aus der Sicht eines Dirigenten hören und sehen muss. Er hatte täglich Erfahrung mit lebenden, atmenden Musikern. Deswegen ist die erste Option immer, zu vertrauen und mit Mahlers Markierungen zu gehen.
Das klingt, als gäbe es ein Aber?
Ja, denn das ist nur die rein praktische Sichtweise. Wenn es um das Innenleben von Mahlers Musik geht, wird es schon ein bisschen komplizierter. Mahler war ein Komponist, der wirklich die menschliche Innenwelt erforschte und in Frage stellte, was in uns passiert. Seine eindeutig programmatische Musik erzählt davon, selbst wenn er alle Titel wegnahm, um es etwas abstrakter aussehen zu lassen. Seine Musik spiegelt die menschliche Erfahrung mit Religion, Liebe, Verlust, Trauer, Absurdität und auch Dummheit wider. In jeder Sinfonie ist zumindest in einem Abschnitt zu spüren, wie er die Esel im menschlichen Zoo verachtet. Aber vielleicht bin ich auch zu hart zu den Eseln ... Auf jeden Fall ist die Tiefe seiner inneren Welt einfach erstaunlich, so nuanciert und so voller Schmerz. Und zugleich besass er die Fähigkeit, Freude und alles dazwischen in seiner Musik auszudrücken.
Hast du deine Perspektive auf Mahler verändert über die Jahre?
Ja, weil ich diese Sinfonien so oft dirigiert habe. Wenn man beginnt, sich mit Mahlers Musik zu beschäftigen, hat man einen unglaublichen Respekt vor dem Notentext dieses grossen Komponisten. Deswegen traut man sich manchmal nicht, seiner eigenen Intuition nachzugehen. Aber ich denke, was wirklich jede Aufführung braucht, ist ein gesundes Gleichgewicht zwischen dem grössten Respekt vor dem Original und dem Vertrauen in das eigene intuitive Verständnis dieser Musik. So denke ich inzwischen, dass Mahlers innerer Dialog Zeit braucht. Entsprechend sind meine Interpretationen über die Jahre wahrscheinlich etwas langsamer geworden und in mancher Hinsicht etwas verzweifelter – und in euphorischen Momenten ein bisschen ausgelassener.
Kubelik, Karajan, Klemperer, Bernstein, Abbado – sie alle haben wichtige Mahler-Aufnahmen hinterlassen; auch David Zinmans Zyklus mit dem Tonhalle-Orchester Zürich hat Furore gemacht. Wie sollte Mahler heute klingen?
Das ist eine interessante Frage, denn man muss sich gleichzeitig fragen, was ist unser Ziel oder unsere Pflicht: Gilt es, die Tradition zu bewahren? Geht es darum, etwas Neues zu finden in dieser Musik? Oder wollen wir die Stücke irgendwie so anpassen, damit sie für uns logisch sind? Das ist alles ziemlich heikel. Wenn man sich Aufnahmen von Klemperer und Furtwängler anhört, dann sind das fantastische Mahler-Interpretationen aus ihrer Zeit. Aber wir spielen diese Werke nicht mehr auf die gleiche Weise. Trotzdem denke ich, dass man die Tradition kennen muss, um sich von ihr zu entfernen oder manchmal darauf zu bestehen, sie fortzusetzen. Mir ist es wichtig, die Aufführungsgeschichte von Mahler zu kennen. Ich habe seit meiner Kindheit so ziemlich alle Mahler-Aufnahmen gehört. Und ich bin immer neugierig, wenn etwas Neues herauskommt. Was ist das? Wie sieht diese Person das?
Mahler selbst hat Tradition einst als «Schlamperei» bezeichnet …
Man muss in Sachen Tradition auf jeden Fall genau hinschauen: In New York und in Wien hat Mahler selbst als Musikdirektor gewirkt, mit dem Concertgebouw war er sehr eng verbunden, und trotzdem spielen sie alle sehr unterschiedlich. Vor allem darf Tradition keine Ausrede für eine Art intellektuelle Faulheit sein. Die einzige wirklich interessante Sichtweise auf eine Mahler-Sinfonie entsteht individuell. Zum Beispiel, wenn in den Noten ein Mezzoforte steht: Das Orchester spielt erst einmal, was geschrieben steht. Meine Aufgabe ist es dann, sie zu ermutigen, wenn es etwa ein unglaublich ausdrucksstarkes Mezzoforte ist. Ein anderes Mezzoforte hat vielleicht einen anderen Kontext. Es geht also immer um den Zusammenhang, in dem etwas gespielt wird.
Unser Mahler-Zyklus ist auf mehrere Saisons angelegt. Am Anfang steht seine 5. Sinfonie. Diese ist gewissermassen ein Neuanfang in Mahlers Sinfonik nach der Tetralogie der Sinfonien 1 bis 4. Wie würdest du diesen musikalischen Neuanfang beschreiben?
Mit der Fünften eröffnet Mahler wirklich ein neues Universum. Er begibt sich in ein unglaublich persönliches Musizieren. Natürlich haben auch die Sinfonien davor ein hohes Mass an Meisterschaft und innerem Dialog. Doch schon die Art der militärischen Begräbniseröffnung und des Trauerspiels, die ganze Idee, eine Sinfonie auf diese Weise zu beginnen – das signalisiert uns, dass etwas ganz anderes auf uns zukommt. Und so etwas wie das Adagietto ist noch nie geschrieben worden. Für mich ist es der Beginn der zweiten Hälfte seines Schaffens.
Der Bezug zum Lied, zum Vokalen, den Mahler in anderen Sinfonien bewusst sucht, fehlt in der Fünften. Welches Konzept erkennst du hier?
Mahler verwendet Lieder als eine Art strukturelles Leitprinzip, weil man sich mit den Liedern identifizieren kann und daher weiss, worum es in der Musik geht. In der Fünften Sinfonie ist das nicht der Fall, aber es gibt immer noch gewisse Andeutungen, vielleicht nicht so offensichtlich. Es gibt viele harmonische Veränderungen und kleine Kadenzen und Momente, die einen an das eine oder andere Lied erinnern. Das vokale Denken ist durchaus präsent. Das Gleiche gilt für die sechste und die siebte Sinfonie. Man erkennt keine konkreten Lieder, aber den Subtext dessen, wovon die Lieder handeln könnten.
«Auf jeden Fall ist die Tiefe seiner inneren Welt einfach erstaunlich, so nuanciert und so voller Schmerz.»
Du hast das Adagietto angesprochen: Dieser vierte von fünf Sätzen ist sehr berühmt und hat ein gewisses Eigenleben entwickelt. Grund ist Viscontis Verfilmung von Thomas Manns «Tod in Venedig» aus dem Jahr 1971. Diese verwendet am Ende das Adagietto und hat Mahler als Sinfoniker bekannt gemacht. Warum ist dieser Satz auch musikalisch wichtig?
Das Adagietto ist für sich genommen so perfekt, dass es sogar alleine stehen kann. Ich persönlich würde es nie einzeln spielen wollen, denn in der Mitte der Sinfonie ist es wie ein Geständnis. Man hat das Gefühl, dass Mahler hier alles, was er hat, auf den Tisch legt: Hier ist es, hier ist mein Herz. Das Adagietto ist so kraftvoll, ehrlich und brillant organisiert. Und die Art und Weise, wie es geschrieben ist – die Harfe und die Streicher. Du hast dieses Gefühl von Perfektion. Die Geschichte mit Visconti hat sicher auch mit Leonard Bernstein zu tun. Er war mein Lehrer, er ist einer meiner grössten Helden – auch in Bezug auf Mahler. Denn er war eindeutig für die Wiederbelebung von Mahlers Musik verantwortlich. In seiner Interpretation hört man einen unglaublichen Schmerz, etwas furchtbar Tragisches, eine Art von Klage aus dem tiefsten Teil der Seele. Dazu passen Viscontis Bilder.
Erinnerst du dich an eine Situation in deinem Leben, die untrennbar mit Mahlers Musik verbunden ist?
Einer der Momente, an die ich mich erinnere, hat tatsächlich auch mit Bernstein zu tun. Er dirigierte in New York. Wir sassen als enthusiastische Studenten im Saal, aber sonst war dort ein Publikum, das ein wenig gelangweilt war, hauptsächlich Geschäftsleute, die von ihren Frauen dorthin geschleppt wurden, obwohl sie eigentlich nicht dort sein wollten. Und dann passierte es: Diese Börsenmakler begannen zu weinen, erwachsene und gestandene Männer. Es war eine unglaublich berührende Aufführung von Bernstein. Und ich selbst verinnerlichte diesen Moment: Okay, das ist eines der Lebensziele. Ich möchte genau an diesen Punkt kommen, mit der Musik eins zu werden. Es war, als würde Bernstein diese Musik just auf der Bühne erfinden. Es war so spontan, so dramatisch, jeder fühlte es. Das war wirklich ein lebensverändernder Moment für mich.
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Foto: Alberto Venzago