«Haltung, Haltung, Haltung!»
Ohne Physis, Kraft und vollen Körpereinsatz kein Orgelspiel, davon ist die Ausnahme-Organistin Iveta Apkalna überzeugt. Ausserdem braucht es noch Programme mit einem «emotionalen, roten Faden» und gute «Arbeitsschuhe» – gerne auch in Silber oder Gold.
Wenn Iveta Apkalna eine Interviewfrage beantwortet, bekommt ihre Stimme einen gewissen Drive, Nachdruck, ein kleines, durchaus fröhliches Beben. Und das nicht nur, wenn es um ihr Instrument geht, die Orgel. Die Leidenschaft, die sie auf ihrem Weg angetrieben hat, ist spürbar – egal, ob man mit ihr über Musik von Bach oder Joseph Jongen spricht, über ihre Lieblingsinstrumente in den Konzerthäusern und Kirchen dieser Welt, über die gebastelten Glücksbringer ihrer Kinder oder über die «Singende Revolution» in ihrer Heimat Lettland.
«Als ich angefangen habe, Musik ernst zu nehmen – also mit fünf Jahren in der Musikschule Unterricht bekam –, da existierten für mich alle Instrumente. Und ich hätte vom Klavier zur Flöte wechseln können, oder zum Cello, oder zur Geige. Aber Orgel?» Das erschien ihr völlig unmöglich. Denn sie kannte zwar die grosse Plattensammlung ihrer Mutter und die komplette Kollektion «Historische Orgeln Lettlands». Doch die Realität ihres Lebens in Rēzekne, rund 250 km südöstlich von Riga, sah anders aus. Hier waren Orgeln für Iveta Apkalna nur etwas «für besondere Momente, nur für besondere Menschen, nur für besondere Orte. Und ich war nicht dort», erinnert sie sich und ergänzt: «Ja, irgendwie auch ein bisschen schmerzvoll, das jetzt so aus meinem Mund zu hören, aber das war für mich etwas ganz Unbegreifliches.»
Hinter verschlossenen Türen
Im sowjetischen Lettland aufzuwachsen bedeutete nämlich auch, dass nicht jeder Weg, nicht jede Tür offen stand. So blieben etwa Kirchentüren häufig verschlossen. «Wir hatten, und haben immer noch, eine der besten Orgeln der Welt in Riga, im Dom. Dort haben Leute aus der ganzen grossen sowjetischen Union und natürlich auch wir, die in Lettland lebten, Konzerte hören dürfen. Denn der Dom wurde immerhin als Konzertsaal genutzt.» Und doch waren diese Gelegenheiten selten. So selten, dass im Kopf des Mädchens ein Bild entstand, das sich bis heute festgesetzt hat: «Die Orgel war für mich wie ein König, den ich nicht so einfach besuchen oder erleben konnte. Gleichzeitig wünschte ich mir ab diesem Moment, Organistin zu werden.»
Die verschlossenen Türen konnten sie nicht aufhalten – und auch die Melancholie im Gespräch ist schnell wieder verflogen und dem dankbar-kraftvollen Tonfall gewichen. Denn Iveta Apkalna ist überzeugt, dass sie doch zur rechten Zeit am rechten Ort war: «Mit 15 Jahren habe ich unsere ‹Singende Revolution› in Lettland erleben dürfen, der Moment, wo wir unabhängig wurden. Das war kein einfacher Weg, Lettland hat seine Unabhängigkeit 1990/91 erkämpft, nicht ohne Blut. Aber für mich war es auch der Moment, wo ich mein Vorstudium begonnen habe. Da standen auf einmal alle Kirchentüren wieder offen.» Und das ist noch nicht mal der ganze Zauber: Denn tatsächlich wurde just in diesem Moment die erste Orgelklasse Lettlands eröffnet und zwar ausgerechnet in der kleinen Heimatstadt von Iveta Apkalna, in Rēzekne: «Ich war buchstäblich die erste Orgelstudentin im wieder unabhängigen Lettland.»
Vergiss alles
Sie habe sehr viel Glück gehabt in ihrem Leben, davon ist Iveta Apkalna überzeugt. Sie habe viel Unterstützung erhalten, von ihrer Familie, besonders von ihrer Mutter. Und sie habe wunderbare Lehrer*innen gehabt, in Riga, in London und in Stuttgart, und in beiden Hauptfächern, Klavier und Orgel – auch dies übrigens ein Novum. Denn zuvor war es in Riga nicht möglich, zwei Instrumente gleichzeitig im Hauptfach zu studieren. Der Offenheit für solcherlei Experimente hat sie Leistung entgegengebracht: «Ich war immer sehr diszipliniert und sehr akkurat. Ich konnte alles ganz schnell umsetzen, was mir gesagt wurde. Das freut natürlich jeden Lehrer.» Was sie bis heute fasziniert, ist, wie gut ihre Lehrer*innen sie einschätzten konnten – und entsprechend auch herausforderten.
Eine Begebenheit begleitet sie bis heute. Auf einmal sagte ihr Klavierlehrer in Riga zu ihr: «Iveta, vergiss alles, was ich jetzt gerade gesagt habe. Riskier einfach!» Da habe sie die Welt nicht mehr verstanden. Sie hatte die schwere Liszt-Etüde vor sich so gut erarbeitet, alles sollte sitzen, musste akkurat passen. Und dann das? «Schmeiss einfach deine Hand», so ihr Lehrer weiter: «Die wird da landen, wo sie landen muss.» Was für sie damals schwer zu verstehen war, arbeitete in ihr. Peu à peu konnte sie es annehmen – und nimmt die Risikofreude noch heute bei ihren Konzerten mit auf die Bühne.
Fast 180 Grad
Dieses intensive Bühnenleben als Organistin, das Kopf und Körper gleichermassen beansprucht, wäre für Iveta Apkalna nicht denkbar ohne eine gute Fitness: «Ich bin glücklicherweise ein Mensch, der sich gerne bewegt» – und das schon seit Kindertagen. Der Tanzsport und das Eiskunstlaufen haben ihr Körpergefühl geprägt, und das war sehr hilfreich für das Orgelspiel: «Wenn man sich vorstellt, dass man sitzt, und jetzt hebt man beide Beine und beide Hände hoch, wo hat man am meisten Spannung? Im Rücken und Bauchbereich. Und wenn dort alles krumm und schief wäre, dann würde man ganz schnell nicht nur physisch müde, sondern man würde ganz bald Schmerzen bekommen. In allen Bereichen, auch in den Schultern, im Nacken, überall. Das heisst, Haltung, Haltung, Haltung. Da bin ich meiner Tanzlehrerin sehr, sehr dankbar.»
Nach dem Tanzen sei sie lange ins Fitnessstudio gegangen, habe sich mit Cardio Training oder Pilates fit gehalten. Da sie so viel unterwegs ist, hat sie inzwischen ihr eigenes Übungsprogramm für sich entwickelt: «Dafür brauche ich nicht viel Platz, das mache ich einfach im Hotelzimmer.» Das würde sie auch anderen Musiker*innen empfehlen, gerade jungen Organist*innen: «Noch bevor der eine oder andere eine Note gespielt hat, kann ich schon ahnen, wie es tönen wird, allein von der Haltung. Das mag jetzt vielleicht übertrieben klingen, aber das ist wirklich besonders beim Orgelspiel sehr wichtig. Dann kann man auch alles Weitere viel einfacher und vielleicht schneller leisten. Denn unsere Mitte, Bauchmuskeln und Rücken müssen wir ganz flexibel nach allen Richtungen drehen können. Fast 180 Grad. Um das zu erreichen, muss man tatsächlich physisch zu Hause etwas tun.»
Ein zweites Herz und elf Paar Arbeitsschuhe
«Zuhause» heisst bei Iveta Apkalna auch «unterwegs». Denn sie verbringt pro Jahr mehr Nächte in Hotels als in ihrem eigentlichen Zuhause, bei ihrem Mann und ihren beiden Kindern, mit denen sie in Berlin und Riga lebt. Deswegen hat sie sie immer ein bisschen dabei, in Form eines Glücksbringers: «Ein dunkelrotes Säckchen, das ich auf den Spieltisch lege, mit drei Sachen darin: Ein Rosenkranz von Johannes Paul II., den ich von ihm geschenkt bekommen habe, ein bemalter Stein von meinem Sohn und ein gebastelter Ring von meiner Tochter. Das ist wirklich etwas ganz Besonderes. Das ist wie ein zweites Herz, was man mitträgt.» Wie viel ihr der kleine rote Reisebegleiter bedeutet, legt nicht nur der weiche Tonfall nahe, sondern vor allem ein Vergleich. Was wäre, wenn sie ihn verliert? «Das wäre für mich genauso wie Orgelschuhe zu verlieren oder zu vergessen.»
Orgelschuhe! Zu diesem Thema wird wohl jede*r Organist*in eine eigene Geschichte haben. Bequem sollten sie wohl sein bzw. beim Spielen unterstützen. Manchmal ein Zufallsfund, werden sie ausschliesslich für diesen Zweck verwendet. Für Iveta Apkalna sind die Orgelschuhe ihre «Hauptarbeiter» und entsprechend lange hat sie sich Gedanken dazu gemacht: «Ich brauche das Gefühl von einer Haut, die Sohle muss also ziemlich dünn und sensibel sein, aber gleichzeitig genug Festigkeit haben. Vor allem die Spitze muss fest sein. Und ich brauche einen hohen Absatz, weil ich ganz oft auch Intervalle mit einem Fuss spiele, wo zum Beispiel zwei oder drei Tasten gleichzeitig gedrückt sein müssen. Das heisst, ich muss den Fuss formen können, um Intervalle zu spielen.» Gemeinsam mit ihrem Schuhmacher in Lettland hat sie Modelle entwickelt, die auch noch ein Blickfang sind – «Silber, Gold, in Schwarz viel seltener. Dann habe ich noch lackschwarze, weisse und rote Schuhe. Ich glaube, neun bis elf Paare habe ich schon.»
Kaufhaus-Orgel und königliche Kammermusik
Eine üppige Schuhauswahl bietet mit Sicherheit auch der Einkaufstempel in Philadelphia/USA, der als Wanamaker Department Store in die Musikgeschichte eingegangen ist, weil dort die grösste vollständig spielbare Orgel der Welt steht. Für dieses Instrument entstand u.a. die «Symphonie concertante» von Joseph Jongen. Für Iveta Apkalna passt diese enorm klangmächtige und farbige Komposition besonders gut zur Orgel der Tonhalle Zürich. Denn genau wie an ihrer Hausorgel in der Hamburger Elbphilharmonie bietet ihr das Instrument alle Freiheiten: «Hier kann ich mich komplett in allen Stilrichtungen austoben.»
Entsprechend möchte sie in der Reihe Kosmos Kammermusik mit den Musiker*innen des Tonhalle-Orchesters Zürich eine andere Facette zeigen: «Die Orgel kann auch eine ganz zarte, filigrane Mit- oder Beistimme haben.» In Bezug auf das Programm geht es ihr um ein gemeinsames Erleben: «Das muss nicht immer von den Titeln zusammenpassen, nicht von der Zeit, nicht von der Herkunft der Komponisten. Aber da muss dieser emotionale, rote Faden sein. Neben Bach erklingt lettische Musik, in meinem Herzen ist Lettland.» Ein besonderer Abschluss wird dann das gemeinsame Konzert mit dem Staatschor Latvija sein. Denn: «So wie lettische Chöre singen, das darf und erlaube ich mir zu sagen, singt kein anderer Chor auf dieser Welt. Das möchte ich mit dem Tonhalle-Publikum teilen.» Und so, wie die «Singende Revolution» die Kirchentüren Lettlands für Iveta Apkalna öffnete, öffnet uns die Organistin nun das Tor zur ihrer Musikwelt.