
Und plötzlich war da ein Porzellan-Pavillon
Jonathan Nott dirigiert zwei ostasiatisch inspirierte Werke: Messiaens «Sept haïkaï» und Mahlers «Lied von der Erde». Beide Komponisten begegnen im Austausch mit dem Fremdartigen vor allem sich selbst.
Das Zinnoberrot sticht von Weitem aus dem Meer und der umliegenden Landschaft heraus, bei Ebbe kann man es aus nächster Nähe sehen: das sechzehn Meter hohe Torii auf der japanischen Insel Miyajima. Es ist eine der grössten Touristenattraktionen Japans und das Postkartenmotiv schlechthin. Torii sind heilige Tore und stehen am Eingang von Shintō-Schreinen. Sie markieren die Grenze zwischen der profanen und der sakralen Welt und zeigen den Göttern den Weg zur Tempelanlage. Auch Olivier Messiaen (im Bild links mit seiner Frau Yvonne Loriod) muss das rote Torii 1962 auf seiner Hochzeitsreise gesehen und sich bei diesem Anblick inspiriert gefühlt haben – und zwar so sehr, dass er es zum Titel des fünften Satzes seines Werks «Sept haïkaï. Esquisses japonaises » machte, das ein Jahr später uraufgeführt wurde.
Ein Haiku, das kein Haiku ist
Wer nun meint, bei Messiaens «Sept haïkaï» handle es sich um die Vertonung japanischer Kurzgedichte, irrt sich. Eine Gesangsstimme oder die für Haiku typische 5-7-5-Struktur sucht man hier vergebens. In der Regel bestehen Haiku aus drei Versen, wobei der erste fünf, der zweite sieben und der dritte wiederum fünf Moren – silbenähnliche Einheiten – aufweisen. Mit der zusätzlichen Angabe im Titel «Esquisses japonaises» («japanische Skizzen») schaffte sich Messiaen aber geschickt einen Freiraum, denn das Skizzenhafte, Unfertige, Fragmentarische lässt sich nicht so recht in eine Form pressen – schon gar nicht in eine so enge und minimalistische wie die des Haiku.
Vom zweiten bis zum sechsten Satz werden verschiedene Schauplätze in Japan thematisiert, darunter Nara, Miyajima und die ornithologische Traumdestination Karuizawa, die der Vogelliebhaber Messiaen mit der orchestralen Nachahmung zahlreicher Vogelstimmen porträtierte. Eine Ausnahme bildet der vierte Satz: «Gagaku» ist kein Ort, sondern eine Form japanischer Hofmusik, die ihre Anfänge im siebten Jahrhundert hat. Wortwörtlich bedeutet es «elegante Musik». Die Shō, eine Mundorgel mit siebzehn Bambuspfeifen, und das Hichiriki, ein Rohrblattinstrument, sind feste Bestandteile der Gagaku-Musik. Messiaen imitiert die Shō mit dem Einsatz von acht Geigen, die gehaltene achtstimmige Akkorde spielen – und die Rolle des Hichiriki ist an die Trompete vergeben.
Messiaens Naturverbundenheit und seine musikalische Experimentierfreude machten ihn empfänglich für eine Begegnung mit Japan. Vielleicht hätte er sich gut mit Matsuo Bashō (1644–1694), dem wohl bekanntesten Haiku-Dichter, verstanden: In seinen Gedichten fängt er kurze Momente in der Natur ein, in denen Gerüche, Geräusche und Farben eine zentrale Bedeutung einnehmen.
Diesen synästhetischen Ansatz findet man auch bei Messiaen wieder, der sich intensiv mit der Übersetzung von Phänomenen in die Tonsprache beschäftigt hat. In einem Interview von 1979 hat er gesagt, dass er Farben sehe, wenn er Musik hört. Im fünften Satz «Miyajima et le torii dans la mer» versucht er, das Kolorit, das er auf der Insel erblickt hat, in seinen Klängen einzufangen: «Das Grün der japanischen Kiefern, das Weiss und Gold der Shintō-Schreine, das Blau des Meers und das Rot des Torii – Das wollte ich […] fast wörtlich umsetzen.» Messiaen errichtet ein Portal zwischen der Farb- und Musikwelt – ähnlich wie das Torii als Verbindung zwischen weltlichem und heiligem Raum fungiert.
Ein trendiges Geschenk
1911, ungefähr ein halbes Jahrhundert vor der Uraufführung von Messiaens «Sept haïkaï», fand die Premiere von Mahlers Zyklus «Das Lied von der Erde» statt. Auch er erhielt eine Inspiration aus Ostasien, in diesem Fall aus China. Im Gegensatz zu Messiaen war er jedoch nie dort.
Mahler hatte von dem befreundeten Theodor Pollak 1907 einen Gedichtband von Hans Bethge mit dem Titel «Die chinesische Flöte» geschenkt bekommen, in dem der Komponist die Grundlage für den Text seines Werks fand. So ein Präsent lag damals im Trend: Denn ab den 1890er- bis in die 1910er-Jahre herrschte ein regelrechter Übersetzungsboom von chinesischer Literatur und Poesie. Auch Neuerscheinungen zur chinesischen Geschichte, Geografie oder Kultur kamen auf den Markt. Dieses Interesse war unter anderem ein Resultat der Wiener Weltausstellung von 1873. Die Neugierde westlicher Besucher*innen für ostasiatische Kunst wurde dort besonders entfacht.
Tausendjährige Flüsterpost
Für den Liedtext verwendete Mahler sieben ins Deutsche übersetzte Gedichte, deren Wurzeln bis in die Tang-Dynastie reichen. Mahlers Liedtext könnte man als das Produkt einer über tausend Jahre alten Flüsterpost bezeichnen. Bei diesem Kinderspiel wird eine Nachricht flüsternd weitergegeben und am Ende kommt oft eine Aussage heraus, die derart verändert ist, dass sie fast nichts mehr mit dem ursprünglichen Inhalt zu tun hat.
Hans Bethge, der kein Chinesisch verstand, bezog sich in seinem Gedichtband auf eine andere deutsche Übersetzung von Hans Heilmann. Diese wiederum hatte zwei französische Übersetzungen aus den 1860er-Jahren zur Grundlage: Eine textnahe vom Sinologen Léon d’Hervey de Saint-Denys und eine sehr freie, dilettantische von Judith Gautier. Letztere konnte nicht sehr gut Chinesisch und brauchte die Originale eher als Inspiration für ihr eigenes Produkt. Gautier zeichnete ein romantischverklärtes Bild von China mit Motiven wie dem Mond, Jade und Porzellan. Ironischerweise erfreuten sich ihre Texte viel grösserer Beliebtheit als jene des Sinologen.
So ist es auch naheliegend, dass sich Fehler in diese Übersetzungen eingeschlichen haben, die heute noch im Gesangstext des Zyklus «Das Lied von der Erde» ersichtlich sind. Ausgerechnet im dritten Satz «Von der Jugend», der zusammen mit dem vierten Satz als Ausgangspunkt von Mahlers musikalischen Chinoiserien verstanden wird, ist die Rede von einem «Pavillon aus grünem und aus weissem Porzellan ». Diese Strophe hat Mahler direkt von Bethge übernommen. Geht man jedoch in der «Flüsterpost» einige Schritte zurück, stellt man fest, dass Gautiers Übersetzung hier fehlerhaft war. Im chinesischen Original war nie die Rede von Porzellan. Gautier hatte das chinesische Zeichen «陶» falsch interpretiert: Eigentlich stand es hier für den Familiennamen Táo, nicht für Porzellan.
«Authentische» Pentatonik
Wortwörtlich war der Titel «Ein Fest in Herrn Taos Pavillon» und nicht «Der Pavillon aus Porzellan», wie es dann bei Bethge hiess. Mahler änderte den Titel zu «Von der Jugend». Durch die hauptsächlich pentatonische Gestaltung entstand ein vermeintlich «authentisches » Gesamtprodukt, das gut zum Pavillon aus Porzellan passt und einen direkt nach China zu verschlagen scheint – oder zumindest in Mahlers Vorstellung davon.
Mahler kreierte aus Bethges Text seine eigene stoffliche Verwebung. Er dichtete hinzu, strich und stellte um, wie es ihm passte. «Das Lied von der Erde» markiert seine letzte Schaffensphase und hat nicht den Anspruch, eine Hommage an chinesische Dichtkunst zu sein. Seine Auseinandersetzung mit Themen wie Abschied, Zerfall und Weltschmerz, die sich musikalisch unter anderem in der Aufgabe der Tonalität zeigen, erlauben einen tieferen Einblick in seinen damaligen Gefühlszustand.
Nun begegnen sich diese zwei Resultate von ostasiatischer Inspiration im Konzert. Dirigiert werden sie von Jonathan Nott, der für Franz Welser-Möst einspringt.