Mehr als nur ein «Hallelujah»
Vier Minuten Musik aus Händels «Messiah» haben es in die Populärkultur geschafft. Es gibt in dem Werk aber noch viel mehr zu entdecken.
Carl Orffs «Carmina Burana» und Richard Strauss’ «Also sprach Zarathustra» haben bei allen Unterschieden etwas gemeinsam: einprägsame Melodien. So setzte der Box-Weltmeister Henry Maske das «O Fortuna» von Orff ein, um in die Arena einzumarschieren. Und die Anfangstakte von Strauss’ Sinfonischer Dichtung wurden durch Stanley Kubricks Film «2001: Odyssee im Weltraum» weltberühmt. Die Popularität dieser paar Takte ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits kommen wir erst dadurch mit der Musik in Berührung, andererseits ist uns dabei oft nicht bewusst, von welchem Komponisten oder aus welchem Stück sie stammt.
Die genannten Werke teilen dieses Schicksal mit dem vierminütigen «Hallelujah» aus Georg Friedrich Händels «Messiah». Die Musik wurde unzählige Male eingesetzt, so etwa in Jugendserien wie «Die Simpsons», «SpongeBob Schwammkopf» und «South Park», aber auch in historischen Dramen wie «Die Herzogin».
Aber Händels «Messiah» hat noch viel mehr zu bieten. Hier verraten ein paar der Interpret*innen ihre Lieblingsstellen – und geben Hörtipps für die Aufführung.
Hörtipp #1: Florian Boesch, Bass
«Meine Lieblingszeilen aus dem ‹Messiah› sind wahrscheinlich: ‹Thy rebuke hath broken His heart; He is full of heaviness. He looked for some to have pity on Him, but there was no man, neither found He any to comfort Him› aus dem Psalm 69. Im Tadel sind wir betroffen, auf der Suche nach Trost. In diesen wenigen Zeilen sind wir unglaublich klar in unserem Menschsein getroffen. Händel braucht nur 18 Takte, um ganz sensibel und fein den Kern zu berühren, in dem wir uns alle gleichen.»
Hörtipp #2: Yukiko Ishibashi, Violinistin im Tonhalle-Orchester Zürich
«Als Kind war ich in Japan oft in Konzerten und habe dabei Händel gehört. Meine Mutter ist Sängerin und hat immer die Alt-Stimme übernommen. Wenn ich das Stück höre, kommen mir diese Momente in den Sinn. Sehr schön finde ich die Stelle ‹He was despised and rejected of men›, wo die Alt-Stimme von dem traurigen Motiv der Geigen begleitet wird, obwohl die Musik in Dur geschrieben ist. Dieser Wechsel von Gesang und Geigen, diese Seufzer und Momente im Pianissimo wirken auf mich sehr emotional. Es sind aber die zwei Seiten der Melodie, die mich fesseln: die Wärme, aber auch die Unsicherheit. Die Verletzlichkeit in der Musik beeindruckt mich jedes Mal.»
Hörtipp #3: Philipp Wollheim, Violinist im Tonhalle-Orchester Zürich
«Die ‹Pifa› aus dem ‹Messiah› ist für mich immer ein Höhepunkt, da sie durch ihre Schlichtheit und den wiegenden 12/8-Takt ein so wohliges, weihnachtliches Gefühl hinterlässt. Als eines von nur zwei orchestralen Stücken im ersten Teil des ‹Messiah› dient sie als instrumentaler Gegen- und gleichzeitig Ruhepol.»
Hörtipp #4: Florian Helgath, Einstudierung Zürcher Sing-Akademie
«Aus meiner Sicht ist das Oratorium ‹Messiah› unglaublich vielfältig, weil es wie kaum in einem anderen Stück der chorsinfonischen Literatur so viele Charaktere bzw. Farben für den Chor gibt. Die ganze Geschichte von Jesus Christus wird erzählt, von der Geburt, der Freude über Weihnachten, über die Passion, dieses Leiden, bis zur Auferstehung und grossen Seligkeit am Ende – und mit dieser Riesenanzahl von Chor-Nummern in den verschiedensten Ausdrucksweisen ist das ein absolut einzigartiges Werk.»
Hörtipp #5: Anita Leuzinger, Cellistin im Tonhalle-Orchester Zürich
«Händels ‹Messiah› und generell barocke Oratorien sind für mich immer Highlights. Das Hören und Spielen dieser Kunstwerke haben in unserer kurzlebigen Zeit einen unglaublich bereichernden und reinigenden Effekt. Ich kann mich gar nicht auf eine Lieblingsstelle festlegen, sondern nur allen wünschen, diese Werke einmal als Ganzes zu erleben. Für mich ist das Continuo-Spiel etwas vom Schönsten, was es gibt: Das Begleiten der Sänger*innen, die Umsetzung der Dramatik des Textes in Musik, meist mit nur ganz wenigen Noten, erfordert höchste Sensibilität und Aufmerksamkeit – ein fast meditativer Zustand.»
Hörtipp #6: Jan Willem de Vriend, Dirigent
«Vielleicht ist es ein Klischee, aber das ‹Hallelujah› ist wirklich wunderbar. Und ich frage mich immer, warum. Liegt es daran, dass Text und Musik perfekt zusammenpassen? Dass es einen genialen Aufbau hat? Weil alle Instrumente optimal genutzt werden? Oder weil es so gut für die Stimme geschrieben ist? Aber ist es nicht auch der Humor, mit der Imitation von Schafen etwa, oder ist es der Ernst des Anfangs? Der ‹Messiah› hat wirklich alles, was Musik bieten kann.»