
Drei Gründe für das Wunder
Demnächst stehen Eva Ollikainen und Santtu-Matias Rouvali erstmals vor unserem Orchester. Beide kommen aus Finnland – wie auffallend viele Pult-Grössen.
Rund 5.5 Millionen Menschen leben in Finnland, deutlich weniger als in der Schweiz. Umso erstaunlicher ist es, wie viele dieser Menschen mit Dirigierstäben Furore machen: Von Esa-Pekka Salonen über Mikko Franck, Jukka-Pekka Saraste, Susanna Mälkki, Sakari Oramo, Hannu Lintu und viele weitere bis hin zum jüngsten Shooting-Star Klaus Mäkelä stehen sie reihenweise vor den bedeutenden Orchestern. Und gleich zwei von ihnen, nämlich Eva Ollikainen und Santtu-Matias Rouvali, debütieren demnächst beim Tonhalle-Orchester Zürich.
Woher kommt dieses «finnische Dirigierwunder», wie es manchmal genannt wird? Die Frage geht an Paavo Järvi, der als Este sozusagen vis-à-vis von Finnland aufgewachsen ist. Er vermutet vor allem drei Gründe. Der erste heisst Jorma Panula und ist einer der berühmtesten Dirigier-Lehrer weltweit: «Er hat so viele gute Leute herausgebracht, dass da ein gewisses Vertrauen entstand, bei den Agenturen, bei den Orchester-Managements, beim Publikum. Im Sinne von: Was aus Finnland kommt, muss gut sein.» Wenn es einmal erfolgreiche Vorbilder gebe, präge das den Nachwuchs: «Da entsteht dieses Gefühl – wenn der und die es geschafft haben, dann kann ich das auch.»
Den zweiten Grund sieht Paavo Järvi in der finnischen Kulturpolitik, die seit den 1950er-Jahren viel Geld in den Ausbau von Musikschulen und Orchestern gesteckt hat. Selbst kleinere Städte haben ein eigenes Sinfonieorchester oder zumindest ein Kammerorchester, «dadurch gibt es für junge Dirigentinnen und Dirigenten viele Möglichkeiten zu üben». Drittens erwähnt er schliesslich den finnischen Nationalcharakter: «Die Menschen in Finnland sind sehr individuell, auch stur im allerbesten Sinn, und sie arbeiten hart. Solche Eigenschaften kann man beim Dirigieren brauchen.»
«Ein echtes Genie»
Grund eins, der heute 94-jährige Jorma Panula, spielt tatsächlich auch bei den Werdegängen von Eva Ollikainen und Santtu-Matias Rouvali eine entscheidende Rolle.
Eva Ollikainen war 15 Jahre alt, als sie ihn ganz einfach anrief und fragte, ob sie in seine Klasse kommen dürfte – und die Antwort erhielt, sie solle doch gleich am folgenden Tag auftauchen. Rückblickend bezeichnete die heute 43-jährige Dirigentin Panula in einem Podcast als «echtes Genie». Er fordere nicht zwanzig Dinge auf einmal, sondern drei, bei denen er dann aber Fortschritte sehen wolle; «er hat ein gutes Auge dafür, worüber eine Person als nächstes nachdenken sollte». Entsprechend individuell sei sein Unterricht, «er hat keine Formel für alle, sondern packt einen dort, wo man steht».
Immerhin, ein paar grundlegende Prinzipien von Jorma Panula lassen sich aus Äusserungen verschiedener Schüler*innen dennoch herauskristallisieren. So akzeptierte er während seiner Zeit an der Sibelius-Akademie in Helsinki nur Studierende mit Orchestererfahrung – weil man auf dem Podium wissen sollte, wie es sich anfühlt, dirigiert zu werden. Gleichzeitig förderte er den Zusammenhalt unter ihnen: Wer dirigiert, sollte Freunde haben, die dasselbe tun, «weil nur sie einen verstehen können». Ein weiterer oft zitierter Satz lautet: «Mehr Spannung, weniger Bewegung.» Herumfuchteln geht gar nicht, auf dem Podium herumhüpfen noch viel weniger: Tanzen sei eine andere Kunstform, sagt Panula.
Santtu-Matias Rouvali hüpft trotzdem. «Jorma Panula hasste meinen Stil und wollte mir das austreiben», sagte der mittlerweile 39-jährige Dirigent einmal, «doch es hat nicht funktioniert». Anderes hat er von seinem Lehrer aber durchaus übernommen: Etwa die Überzeugung, dass man mit Freundlichkeit mehr erreiche als mit Machtgehabe. Oder jene, dass die Sprache der Hände knapp und klar sein soll: «Man darf nicht zu viel zeigen, sonst wissen die Musikerinnen und Musiker gar nicht, worauf sie jetzt schauen sollen.»
Auf den Knien des Paukers
Santtu-Matias Rouvalis Weg auf das Dirigierpodium hat einst – ganz entsprechend Paavo Järvis zweiter Hypothese – in einem der vielen finnischen Ensembles begonnen. Seine Eltern spielten beide im Sinfonieorchester von Lahti, und wenn er als Kind in den Proben dabei war, schaute er am liebsten den Dirigenten und Schlagzeugern zu. Einmal nahm ihn ein Pauker auf die Knie, er durfte einen Schlag probieren, «das Zurückfedern des Schlägels spüre ich noch heute». Also wurde er Schlagzeuger, beobachtete in den vielen Pausen die Dirigent*innen und las die Partituren mit – und kam irgendwann zum Schluss, «dass Dirigieren spannender ist als Pausen zählen».
Eva Ollikainen dagegen spielte Klavier, die Orchesterinstrumente Violine und Horn lernte sie während ihres Studiums dazu. Später hat sie genau wie ihr Kollege Rouvali zahlreiche Orchester nicht nur in Finnland, sondern in ganz Skandinavien dirigiert. Nach wie vor haben beide im Norden eine feste Adresse: Eva Ollikainen ist Chefdirigentin beim Iceland Symphony Orchestra, Santtu-Matias Rouvali leitet die Göteborger Symphoniker. Gleichzeitig pflegen beide längst gute Kontakte zum Rest der Musikwelt – unter anderem als Principal Conductors beim Orchestra della Toscana (Ollikainen) beziehungsweise beim Londoner Philharmonia Orchestra (Rouvali).
Würstchen braten im Wald
Und wie steht es nun mit dem Nationalcharakter, den Paavo Järvi als dritten Grund für das «finnische Dirigentenwunder» sieht? Bei aller Vorsicht, mit der man solche Verallgemeinerungen behandeln soll, lässt sich Folgendes festhalten: Eine Dirigentin, die wie Eva Ollikainen an ihrem Kindheitstraum festhält, obwohl bereits ihre grosse Schwester ihr abriet, «weil du ein Mädchen bist» – die ist ganz bestimmt «stur im allerbesten Sinn». Wenn sie dann auch noch Schwedisch, Finnisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch spricht und dazu Dänisch und Isländisch lernt, wie sie im erwähnten Podcast erzählt, darf man vermuten, dass sie durchaus hart arbeitet.
Santtu-Matias Rouvali wiederum hat sich sogar explizit über nationale Eigenheiten geäussert. Finnische Dirigenten seien ein bisschen besonders, sagte er einst in einem Video-Interview, «weil sie nicht in teuren Anzügen auftauchen, sie sind natürlicher». Das habe damit zu tun, dass die klassische Tradition in Zentraleuropa entstand, «wir haben noch Würstchen gebraten im Wald, als die Wiener schon teure Restaurants und Kultur hatten».
Er selbst lebt auf einem Hof abseits von allem, «ich brauche die Balance zwischen der Hektik des Musikbetriebs und dem friedlichen Leben zu Hause». Hier könne er sich darauf konzentrieren, Musik zu lernen – «oder auch darauf, sie zu vergessen».