Reisender im Multiversum
Bryce Dessner bewegt sich mit souveräner Leichtigkeit zwischen mindestens zwei Welten: auf den Indie-Rock-Bühnen als Gitarrist und in den internationalen Konzerthäusern als Komponist.
Es ist eine überraschende Antwort, die Bryce Dessner mir gibt, als ich ihn nach seinem Instrument befrage: «Mein Instrument nimmt viele Formen an, denn ich schreibe gerne für Orchester, das ein riesiges Instrument ist.» Für ihn ist klar, dass mit «seinem Instrument» das Orchester gemeint ist – und nicht etwa die Gitarre. Dabei ist er als Gitarrist der Indie-Rock-Band The National international bekannt geworden.
Seit über 20 Jahren prägt er an der Seite seines Zwillingsbruders Aaron den besonderen Sound der Band mit. Kürzlich haben The National gleich zwei neue Alben veröffentlicht: das schon länger erwartete «First two pages of Frankenstein» und «Laugh Track», das die Band komplett überraschend im Herbst 2023 nachgelegt hat. Es ist bereits das zehnte Album der Gruppe. Mit ihrer melancholischen Musik, ihren Texten mit Tiefgang, getragen von der markanten Stimme von Frontsänger Matt Berninger, und ihren unaufdringlichen, aber komplexen Arrangements füllt die Band auf Tour bis heute grosse Hallen in den USA, in Kanada und ganz Europa, oder aktuell in Neuseeland und Australien.
Um ihr Klangspektrum beständig weiterzuentwickeln, setzt die Formation auf Kollaborationen – unter anderem mit einer der erfolgreichsten Pop-Künstlerinnen unserer Zeit, Taylor Swift, für die Aaron Dessner mehrere Alben produziert hat. Auf der vorletzten The National-Platte übernimmt sie im Gegenzug den Duett- Part im Song «The Alcott» und ganz uneitel auch mal die backing vocals.
Die richtigen Noten
Bryce Dessner gibt sich im persönlichen Gespräch ähnlich unprätentiös, er nimmt sich Zeit zum Antworten, mit offenem Blick und ehrlichem Nachdenken. Er überlegt genau, was er sagen möchte, ohne jedes Kalkül. Zum Beispiel, wenn es um seinen Werdegang als Musiker geht. Als Kind hat er zuerst Flöte gelernt und war «ziemlich gut darauf». Und auch die klassische Gitarre, zu der er dann wechselte, beherrschte er. «Ironischerweise finde ich mich heute oft in Situationen wieder, in denen Virtuosität nicht unbedingt der primäre Zweck oder das Ziel ist.»
«Es geht darum, die richtigen Noten zu finden, nicht die schnellsten oder die am besten gespielten Noten», so Dessner. Er selbst sei «zum Glück» nicht so oft in Situationen, in denen er «sehr schwierige Musik» aufführen müsse: «Aber ich habe grossen Respekt vor Musiker*innen, die das müssen und deswegen viel üben. Das ist auch der Grund, warum ich so gerne für Orchester, für Streichquartett und für herausragende Solist*innen komponiere. Denn es ist eine wunderbare Sache, mit Musiker*innen zu arbeiten, die ihr Leben damit verbringen, das, was sie tun, zu perfektionieren, und ich würde mir nicht anmassen, mich mit ihnen zu vergleichen.»
Preise, Päpste, Partner
Dabei spielt er aufgrund seiner Vielseitigkeit schon längst ganz weit oben mit. Einen Grammy bekam er 2018 mit The National, einen weiteren bereits zwei Jahre zuvor für das kammermusikalische Performance-Projekt «Filament» zusammen mit dem Neue-Musik-Ensemble Eighth Blackbird. Kompositionsaufträge solcher Kammerformationen sowie der grossen Orchester wie dem Los Angeles Philharmonic gehören ebenso in sein Portfolio wie Filmmusiken. Der Oscar-prämierte mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu («Birdman», 2014) holte Bryce Dessner 2015 für den Soundtrack von «The Revenant» mit ins Boot.
Für die Filmmusik zur Netflix-Produktion «The Two Popes» mit Anthony Hopkins und Jonathan Pryce (Regie: Fernando Meirelles, 2019) ging er neben Orchester- Arrangements zurück zu seinen musikalischen Wurzeln: Er vertiefte sich in die Komposition für klassische Gitarre und liess es sich nicht nehmen, diese auch selbst einzuspielen. «Ein guter Regisseur ist offen für Ideen und umgeben von talentierten Menschen», so Dessner.
Mit der gleichen Offenheit ist er selbst ständig auf der Suche nach neuen künstlerischen Partnern – und wird manchmal bereits im eigenen Familienkreis fündig. Neben seinem Zwillingsbruder ist auch die Schwester Künstlerin: Jessica Dessner zeichnet, gestaltet das Artwork von Platten, dichtet, tanzt und choreografiert. Eng verbunden ist Bryce Dessner seit vielen Jahren auch mit dem Klavierduo Katia und Marielle Labèque sowie mit dem Gitarristen David Chalmin, mit denen er in Zürich als Minimalist Dream House Quartet zu erleben war. In dieser Saison kommt die Sängerin Barbara Hannigan dazu: Bei «Electric Fields» erkunden die Künstler*innen, eingerahmt von Elektronik-Effekten, Live-Video- und Licht-Projektionen, den musikalischen Kosmos – angefangen bei der mittelalterlichen Alleskönnerin Hildegard von Bingen.
Inspiration und Ausgleich
Pérotin, den französischen Komponisten des 12. Jahrhunderts, der in der Musikgeschichte quasi nahtlos auf Hildegard von Bingen folgte, benennt Dessner denn auch als Schlüsselfigur seiner musikalischen Welt – neben Strawinsky, Steve Reich, Bach und Nina Simone. So überrascht es kaum, dass er während der Pandemie neben der Arbeit am The National-Album in einer wilden musikalischen Mischung Halt fand: Er habe «lustigerweise viel japanische Ambient- Music aus den 80ern gehört», dazu klassische und Alte Musik. Aktuellere Songs habe er gemieden, denn diese hätten ihn «irgendwie bedrückt, während Musik von Komponisten aus dem 12. Jahrhundert mich entspannt hat.»
Für sich als Hörer wie für seine eigene Musik betont er im Gespräch, dass ihm «das Gefühl von Vielfältigkeit und Pluralität in der Musik» wichtig sei, «wo man eine Art von Weite spüren kann, die vielleicht am ehesten mit der Natur vergleichbar ist. Wenn man auf das Meer oder auf die Berge schaut, kann man sowohl eine Einfachheit als auch eine Komplexität erkennen».
Und Bryce Dessner schaut sehr gerne auf Berge. Wenn er gerade einmal nicht auf Tour ist, geniesst er den Blick auf die baskische Bergwelt seiner Wahlheimat. Aufgewachsen ist er in Ohio, «in einer sehr langweiligen Landschaft». Lachend ergänzt er, dass er «also eine sehr niedrige Erwartung» habe und daher «überall leben kann». Einen grossen Vorteil hatte die Gegend allerdings: das Cincinnati Symphony Orchestra. Dort hat er schon als Teenager Paavo Järvi gehört, als dieser dort Chefdirigent war – ein Kreis, der sich schliesst, wenn Järvi nun Dessners Musik aufführt.
Ambient und Mittelalter-Gesänge, Indie-Rock und Folk-Pop, Filmmusik und Fusion, Kammermusik und grosse Orchesterwerke mit Solist*innen – in jedem dieser gleichberechtigten Paralleluniversen unserer Zeit ist Bryce Dessner zuhause. Seine Musik ist also im besten Sinne zeitgenössisch und nicht selten ein Gruss aus dem Multiversum.