Alte Werke auf neuen Instrumenten
Wie geht historisch informierte Aufführungspraxis im Sinfonieorchester? Eine Spurensuche in der Tonhalle Zürich.
Es ist ein verdächtiger Eintrag, der sich am 20. und 21. April 2023 im Konzertkalender des Tonhalle-Orchesters Zürich findet: Ein Orgelkonzert in d-Moll von Johann Sebastian Bach wird da angekündigt. Aber Bach hat keine Orgelkonzerte geschrieben; für das Werk werden Sätze aus verschiedenen Kantaten zusammengefügt, für die Bach ein originales Cembalokonzert für Orgel umgeschrieben hat.
Darf man das? Aber sicher, sagt der Niederländer Jan Willem de Vriend, der die Konzerte dirigieren wird. Er gehört zu jenen Vertreter*innen einer historisch informierten Aufführungspraxis, die das früher übliche Wort «authentisch» sehr bewusst nicht verwenden. Denn es geht ihm nicht darum, etwas exakt so wie früher zu machen: «Wenn wir tatsächlich Aufführungen von damals rekonstruieren wollten, bräuchten wir nicht nur historische Instrumente, sondern auch einen anderen Saal und andere Ohren.»
Ihn interessiert deshalb nicht die akademische Korrektheit einer Interpretation, sondern der Geist der Musik, ihr Ausdruck, ihr Inhalt. «Schönklang allein genügt nicht», sagt Jan Willem de Vriend. «Um darüber hinauszukommen, braucht es neben Wissen und Erfahrung auch Fantasie, Intuition, Neugierde.» So überlegt er sich manchmal, welche Worte er einer Musik unterlegen könnte – durchaus im Einklang mit Nikolaus Harnoncourts Konzept der Klangrede. Oder er findet seine Inspiration in einem Brief von Leopold Mozart: «Der hat einst von einer Kommode geschwärmt, die er in London entdeckt hat, ganz ohne Ecken, alles abgerundet.» Dieses Bild hat er vor Augen, wenn er Werke des Bach-Sohnes Johann Christian aufführt, der in London wirkte: Nicht eckig soll diese Musik klingen, sondern eben rund, «der Energiefluss soll durch nichts gestört werden». Am allerwenigsten durch Dogmen.
Historisch informierter Brahms
Es hat sich viel getan, seit Pioniere wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt ab den 1950er-Jahren historische Instrumente und Spielweisen neu erforschten – und damit das Musikleben und die Klangvorstellungen revolutionierten. Die Originalklang-Bewegung, wie man sie damals nannte, hat sich nicht nur in unzähligen Alte-Musik-Ensembles durchgesetzt; sie ist längst auch im «normalen» Konzertbetrieb angekommen.
Vom Barock aus sind die Spezialist*innen ausgeschweift bis ins frühe 20. Jahrhundert, auch die Werke von Brahms, Wagner oder Strawinsky gibt es heute in historisch informierten Interpretationen. Und viele der einstigen Wegbereiter stehen nicht mehr nur vor ihren eigenen Ensembles, sondern werden auch von Sinfonieorchestern engagiert. Aktuelles Beispiel: Der Belgier Philippe Herreweghe, der mit seinem Collegium Vocale Gent und seinen Bach-Passionen Massstäbe gesetzt hat, wird in der Tonhalle Zürich demnächst Brahms' Violinkonzert mit der Solistin Isabelle Faust dirigieren. Man wird da zweifellos hören, was Brahms von Bach gelernt hat. Und die Blechbläser werden – wie etwa bereits bei David Zinmans Beethoven-Zyklus – mit historischen Instrumenten auf die Bühne kommen.
Die einst so radikal getrennten Kanäle zwischen dem traditionellen Orchesterbetrieb und der barocken Szene sind damit wieder offen. Für Jan Willem de Vriend ist das selbstverständlich: «Ein Dirigent muss sich sowieso bei jedem Werk fragen, unter welchen Bedingungen es entstanden ist und wie man ihm gerecht werden kann», sagt er. Und er zweifelt nicht daran, dass auch moderne Instrumente sinnvolle Antworten geben können.
Bereits 1982 hat er ein Barockensemble mit modernen Instrumenten gegründet, «weil wir Lust hatten, rares Repertoire zu entdecken». Heute arbeitet er am liebsten mit Sinfonieorchestern: «In den spezialisierten Barockensembles kommt es vor, dass einem die Musiker*innen signalisieren, sie wüssten schon, wie das gehe. In den modernen Orchestern dagegen – und gerade im Tonhalle- Orchester Zürich – spüre ich eine grosse Offenheit und Experimentierfreude.»
«Probiert mal!»
Das Orchester sei tatsächlich sehr offen, sagt der Soloposaunist Seth Quistad, der neben seiner Arbeit im Tonhalle- Orchester Zürich mit der Barockposaune unter anderem in Cecilia Bartolis Hausorchester Les Musiciens du Prince mitwirkt. Er erinnert sich an eine Probe, in der Jan Willem de Vriend eine Kiste voller Barockbögen mitgebracht hat: «Er hat nur gesagt, probiert mal! Und es hat sofort ganz anders geklungen.»
Das bedeutet nun nicht, dass das Tonhalle-Orchester Zürich auch ein Barockorchester ist; «das muss es auch nicht sein», sagt Seth Quistad. Die Alte-Musik-Szene und das Sinfonieorchester sind zwei Welten für ihn, die sich durch weit mehr als die Instrumente und die Spielweisen unterscheiden: «Die Menschen sind anders, das soziale Gefüge, der Umgang mit theoretischen Quellen.» Aber wenn man sich im Orchester Werke von Bach & Co. vornehme, «dann muss es gut sein»: So gut, dass das Tonhalle-Publikum auf seine Kosten kommt – und man sich vor Barockspezialist*innen nicht genieren muss.
Die Geigerin Elisabeth Harringer-Pignat sieht das ähnlich. Auch sie hat Erfahrung im Umgang mit Alter Musik; im Opernhaus Zürich, wo sie früher spielte, hat sie im Orchestra La Scintilla mitgewirkt. Heute benutzt sie ihre Barockgeige «zwar nicht mehr so oft, aber immer noch sehr gerne». Aber auch mit modernen Instrumenten sei Alte Musik sinnvoll spielbar: «Man kann immer eine adäquate Spielweise finden.»
Fragt man sie nach Dirigenten, kommt sie ins Schwärmen: Nikolaus Harnoncourt und William Christie im Opernhaus, nach dem Wechsel ins Tonhalle-Orchester Zürich dann Frans Brüggen, Ton Koopman, Giovanni Antonini, Philippe Herreweghe, John Eliot Gardiner: «Es macht schon sehr viel Spass, mit solchen Koryphäen zu arbeiten.» Für eine Bach-Passion mit Herreweghe würde sie alles geben; und auch die Projekte mit Jan Willem de Vriend gehören für sie zu den Highlights: «Er ist kein Guru, sondern arbeitet auf Augenhöhe mit uns. Das ist enorm inspirierend.»
Aus ihrer Sicht könnten sie alle gerne öfter in die Tonhalle Zürich kommen. «Das barocke und klassische Repertoire ist enorm reich, wir hätten gerne mehr davon», sagt sie. «In älteren Werken spielen wir in kleineren Besetzungen, das ist enorm wichtig für das Orchester, für das Zusammenspiel, für die Klanghygiene.» Der Geiger Kilian Schneider, der ebenfalls zu den Barockfreund*innen im Orchester gehört, ergänzt den Wunsch nach «öfter» mit jenem nach «länger»: «Früher war Frans Brüggen jeweils zwei Mal zwei Wochen in einer Saison bei uns. So etwas mit Jan Willem de Vriend wäre grossartig; da könnte man sich wirklich vertiefen.»
Pech für die Posaunen
Ilona Schmiel, Intendantin der Tonhalle- Gesellschaft Zürich, kennt diese Wünsche: «Es ist selbstverständlich, dass barockes Repertoire in ein breit gefächertes Programm gehört. Das Orchester profitiert von der Auseinandersetzung damit», sagt sie. «Wir haben deshalb auch für die kommende Saison einige Pläne. Entscheidend ist, dass echte Spezialist*innen diese Konzerte erarbeiten: Das Niveau der Alte-Musik-Ensembles ist hoch – da müssen wir wirklich etwas Besonderes, einen eigenen Ansatz bieten können.» Wie viel sie zu bieten haben, zeigen die Orchestermitglieder auch in der von ihnen selbst organisierten Reihe der Kammermusik-Matineen. Es ist zweifellos kein Zufall, dass da viel Barockes gespielt wird. Purcell und Telemann, Vivaldi und Rameau: «Was in den Orchesterkonzerten selten vorkommt, schmuggeln wir so im kleinen Rahmen in die Programme», sagt Elisabeth Harringer-Pignat.
Dass das Bach-Programm im grossen Rahmen für sie zu den Highlights der Saison gehören wird, «ist sowieso schon klar»; auch Kilian Schneider freut sich auf das Projekt mit Jan Willem de Vriend. Seth Quistad dagegen wird nicht mitspielen, «es kommen in diesen Werken leider keine Posaunen vor. Ich hoffe auf das nächste Mal: Jan Willem, bitte denk an uns!»