«Dann bin ich ganz in diesem Flow»
Zwei Musiker aus dem Tonhalle-Orchester Zürich dirigieren regelmässig bei Kinder- und Jugendprojekten. In engem Austausch miteinander – und doch ganz unterschiedlich.
David Bruchez-Lalli
«Das erste Mal habe ich das Tonhalle-Orchester Zürich als Einspringer dirigiert, vor 14 Jahren, beim Familienkonzert mit dem Film ‹The Snowman›. Ich hatte nur zwei Wochen Zeit für die Vorbereitung, die letzten drei Tage überlegte ich, was ich als Erstes sagen soll, wenn ich vor dem Orchester stehe. Als ich aufs Podium ging, wusste ich es immer noch nicht! Ich sagte dann einfach: ‹Das ist eine seltsame Perspektive für mich, für euch sicher auch. Ich bin nervös, lasst uns anfangen.›
Seither habe ich oft dirigiert, vor allem bei Kinder- und Jugendprojekten wie ‹Mittendrin›. Da steht die Vermittlung im Vordergrund, wir wollen den Kindern die Freude an der Musik weitergeben. Es geht hier nicht um meine Ambitionen als Dirigent, sondern ich muss vor allem schauen, dass alles effizient läuft, dass ich den Kontakt zu den Kindern habe und das Orchester gut einbinde. Ich spüre sehr schnell, wenn irgendwo im Saal eine negative oder zu viel positive Energie aufkommt, das muss man dann rasch ausbalancieren.
Wenn die Kinder für die Konzertproben in den Saal kommen, kenne ich sie schon. Ich mache ja vorher immer Workshops mit ihnen. In diesem Zusammenhang möchte ich unbedingt erwähnen, dass diese Projekte Teamarbeit sind: Wir arbeiten sehr eng mit Mara Corleoni, Lisa Wyss und Yvonne Gisler von der Musikvermittlung zusammen, sie organisieren das Ganze, auch die Programme planen wir gemeinsam und mit Marc Barwisch.
Früher habe ich für die erste Begegnung mit den Kindern manchmal zwei verschiedenfarbige Schuhe angezogen, dann konnten sie wählen, welche ich beim Konzert tragen soll. Das schafft sofort eine Verbindung. Und wenn ich dann auf der Bühne stehe, mit meinem immer noch ziemlich französisch gefärbten Deutsch, dann mögen sie das. Sie fühlen sich vielleicht gerade wegen meiner Sprache nicht belehrt, nicht wie in der Schule; das hilft.
Das Dirigieren hat mich schon immer interessiert, ich habe bereits während des Studiums damit angefangen – ohne offiziellen Abschluss allerdings, weil ich sehr früh eine Stelle als Posaunist bekam. Erst spielte ich im Opernhaus, 2006 wechselte ich dann als Solo-Posaunist ins Tonhalle-Orchester Zürich. Mit diesem Instrument sitzt man ganz hinten im Orchester, und man hat viele Pausen. Da beobachte ich immer, was der Dirigent vorne tut, was davon funktioniert und was nicht. So habe ich sehr vieles gelernt.
Neben den Vermittlungsprojekten dirigiere ich seit neun Jahren das Jugend Sinfonieorchester Zürich (JSOZ), den Junior Music Partner unseres Orchesters. Hier ist der Ansatz anders als bei den Kinderprojekten, es geht wirklich um eine musikalische Entwicklung. Die Jugendlichen sind meist rund drei Jahre lang dabei, wir haben zwei Auftritte pro Jahr in der Grossen Tonhalle, dazu eine Konzertreise ins Ausland. Auf dem Programm stehen ausschliesslich Meisterwerke; das Schönste daran ist, dass diese immer funktionieren. Wenn man einmal den Code knackt, dann sind auch in einer Aufführung mit einem Jugendorchester alle Emotionen voll da.
Für die meisten Orchestermitglieder sind diese Werke neu. Ich selbst habe sie zwar schon oft gespielt, aber nie dirigiert. Wobei es inzwischen manchmal vorkommt, dass ich ein Werk zum zweiten Mal mache: So steht im Herbst nun Dvořáks Sinfonie Nr. 8 an, wie schon bei meinem allerersten Konzert mit dem JSOZ. Darauf freue ich mich: Die nötigen Fehler habe ich beim ersten Mal schon gemacht, jetzt fängt es richtig an.»
Christopher Morris Whiting
«Ich habe 1999 vom Opernhaus ins Tonhalle-Orchester Zürich gewechselt, gerade rechtzeitig für die erste Ausgabe von ‹Mittendrin›. Zunächst war ich als Geiger dabei, ich habe im Orchester gespielt und den Kindern in Workshops gezeigt, wie eine Violine funktioniert. Sie dürfen ja alle Instrumente ausprobieren bei diesem Projekt – nicht unsere eigenen natürlich, sondern Leihinstrumente von Musik Hug.
Seit zwölf Jahren dirigiere ich nun im Wechsel mit David Bruchez-Lalli die Aufführungen. In dieser Zeit haben wir sehr vieles ausprobiert und gelernt. Das Zusammenspiel zwischen dem Orchester und den 300 im ganzen Saal verteilten Kindern klappt inzwischen wirklich gut. Und vor allem wissen wir, wozu Zweit- beziehungsweise Fünftklässler* innen fähig sind! Die Lieder sind anspruchsvoller als früher, aber sie schaffen das. Im letzten Herbst machten wir zum Beispiel erstmals die ‹W. Nuss vo Bümpliz› von Patent Ochsner in einem Arrangement unseres Klarinettisten Florian Walser. Für das Orchester ist das nicht ganz einfach; wenn man Popsongs exakt notiert, sind sie oft schwer zu lesen. Aber die Kinder machten das nach Gehör, auch die Eltern sangen mit. Wir waren alle ganz beflügelt.
Wenn wir für dieses Projekt in die Klassen gehen und die Kinder danach zu uns kommen, erleben sie vieles zum ersten Mal. Sie lernen, wie man einem Dirigenten folgt, wie ein Sinfonieorchester funktioniert, was die verschiedenen Instrumente können. Seit ein paar Jahren organisieren wir auch einen Dirigier-Workshop für alle, da können sie ein einfaches Stück interpretieren, wie sie wollen: lustig, traurig oder wütend, schnell oder langsam. So erfahren sie, dass ein Dirigent nicht nur irgendwie vortanzt, sondern wirklich etwas bewirken kann.
Ich selbst kam durch ein Schlüsselerlebnis zum Dirigieren. Es war in meinem Bachelor-Studium als Geiger in San Francisco. Das Universitätsorchester wurde damals für die Master-Dirigierklasse eingesetzt, und der Professor sagte am Anfang, dass auch die Orchestermitglieder Ende der Woche mal aufs Podium dürfen, wenn sie wollen. Ich habe geübt wie verrückt, ich wollte den ersten Satz von Strawinskys ‹Petruschka› übernehmen, der ist rhythmisch und vom Zusammenspiel her sehr komplex. Es ging dann unglaublich gut, auch weil das Orchester das Stück nach einer Woche problemlos allein hätte spielen können. Ich war richtig high – einem solchen Gefühl jagt man danach ein Leben lang nach. Wobei ich auch die Geige nie aufgeben würde: Selbst zu spielen ist etwas ungemein Sinnliches, ich könnte nicht darauf verzichten.
Wenn ich bei so einem ‹Mittendrin›-Konzert auf dem Podium stehe, ist das kein Job, es ist Berufung. Ich werde zurückversetzt in die Zeit, als ich selbst so alt war wie diese Kinder und davon träumte, Musiker zu werden – eine Karriere als Baseballer hatte ich damals bereits abgeschrieben. Wenn ich heute sehe, wie sehr sie dabei sind, dann vergesse ich alles andere, dann bin ich ganz in diesem Flow.
Und natürlich freue ich mich, wenn sie das Erlebnis danach weitertragen. Die meisten von uns bleiben jahrzehntelang im Orchester, wir haben eine enge Beziehung zur Stadt und zu den Leuten hier, nicht zuletzt dank solcher Projekte. Manchmal werde ich auf der Strasse erkannt von Kindern, die früher mal dabei waren. Und eine Orchesterkollegin hat mir kürzlich erzählt, ihr Sohn singe immer noch die ‹W. Nuss vo Bümpliz›. Wenn ich so etwas höre, motiviert mich das gleich wieder für weitere musikalische Abenteuer.»
Aufgezeichnet von Susanne Kübler