Rosen für die Tuba
Simon Styles ist der dienstälteste Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich. 40 Jahre liegt es zurück, dass der gebürtige Brite sein Probespiel bestanden hat – seither poliert er sein Instrument und dessen Klang. Und doch: Sein eigentliches Probespiel, das war in diesem Jahr, das sich nun dem Ende zuneigt. Wie auch seine Karriere.
Da sitzt er, trinkt sein Mineralwasser, das er später gegen einen Gin and Tonic austauschen wird und schaut zurück. Simon Styles, 64, Tubist im Tonhalle-Orchester Zürich seit 1982. Der Mann hinter dem tiefsten aller Blechblasinstrumente mit passend sonorer Stimme erzählt mit Witz und Wärme, was ihn hierher und durch diese Zürcher Jahre getrieben hat. Mit jenem Humor, den er wahrscheinlich aus seiner Heimat mitgebracht hat: Leicester, eine stündige Zugfahrt nördlich von London.
Simon erinnert sich, wie er damals im November 1981 ums Eck Tee um Tee trank und abwartete, bis er endlich sein Repertoire im Kirchgemeindehaus des Zürcher Neumünsters hinter geschlossenem Vorhang präsentieren konnte. 400 Meter neben seinem Zuhause, das er heute bewohnt, 40 Jahre und vier Kinder später, auch vier Enkelkinder sind inzwischen hinzugekommen in sein Leben.
Ein paar Rappen für die Bühnen der Welt
Der Reihe nach. Leicester und die umgebende Grafschaft, sanfte Hügel, Schafe, Bauernhöfe: Simon ist als ältester von fünf Söhnen in einem kleinen Haus aufgewachsen mit Garten, den sein Vater bestellt hat. Im Wohnzimmer stand ein Plattenspieler, dessen Nadel über Elgars Enigma-Variationen kratzte, wieder und wieder, während seine Mutter als Krankenschwester unterwegs war. Aus den Brüdern sind ein Polizist, ein Banker, ein Steuerbeamter und ein berühmter Rosenzüchter geworden. «Ich bin der einzig musikalische Mensch der Familie. Jedenfalls der einzige, der es von sich behauptet», sagt Simon.
Behauptet haben das später auch andere, zum Beispiel jener ältere Herr, der eigentlich in einer Werkstatt alte Radios reparierte und sich ein paar Rappen und viel Freude dazuverdiente, indem er seine drei, vier Schüler freitagabends in Blechblasinstrumenten unterrichtete. Nicht, dass Leicester eine wahnsinnig gute Blasmusik vorzuweisen gehabt hätte. Dafür gab es ein gutes Schulorchester. So begann Simon mit sieben denn auch mit der Geige – «Erfolglos», er zeigt seine kräftigen Hände her und lacht. Diese Blechbläser habe er irgendwo gehört und zu sich gesagt: «Cool.»
Der Radioreparateur drückte ihm mit elf ein Tenorhorn in die Hand, später eine Posaune. Simon aber wollte die B-Tuba, die in der Werkstatt hoch oben auf einem Schrank lag. «Sobald du sie selbst runterholen kannst, darfst du sie mitnehmen.» Mit vierzehn holte er sich das Instrument. Trug diese zehn Kilogramm im Hartschalenkoffer nach Hause und fortan jeden Tag in die Schule und zurück, um keine Gelegenheit zu verpassen, darauf zu üben. Erst habe er die Tuba poliert, geputzt, gepflegt, dann deren Klang, den sie ausspuckte, um bald schon seinen Lebensunterhalt und darüber hinaus Sinn und Freude zu bedeuten.
Längster Titel aller Zeiten
Simon besuchte als junger Erwachsener das Royal Northern College in Manchester und verdiente danach seine Sporen im Norden Hollands ab, wo er auch für Radioeinspielungen gebucht wurde und seinen späteren Zürcher Chef David Zinman kennenlernte. «Auf seine Kinder habe ich aufgepasst, zwar mit zwanzig Freunden, davon weiss David bis heute nichts.» Die beiden verbinden heute unzählige Konzerte und daraus resultierend eine Freundschaft.
«Ist es am Ende nicht immer die Liebe?», antwortet Simon auf die Frage, was ihn denn nach Zürich gebracht habe, Jahre bevor David Zinman Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich für zwei Dutzend Jahre wurde. Simons damalige Freundin war eine Cellistin, ihr Weg führte sie ans Konservatorium in Zürich. «Just dann kam die Nachricht vom lieben Gott höchstpersönlich, dass in Zürich ein Tubist gesucht wurde.»
Damals war das Orchester ein völlig anderer Organismus mit 200 Mitgliedern und Simons Titel der wohl längste der Welt: Solo-Tubist der Konzertformation der Tonhalle-Gesellschaft und der Theater AG Zürich. Bald haben sich die beiden Klangkörper, das heutige Tonhalle-Orchester und die Philharmonia Zürich des Opernhauses, getrennt und sind nicht mehr zentral verwaltet, sondern freundschaftlich verbunden geblieben.
Gegen die Zeit anüben
Simon indessen ist bei jeder Gelegenheit nach Chicago geflogen, um beim weit über die USA hinaus gefeierten Blechbläser-Pädagogen Arnold Jacobs, dem Tubisten des Chicago Symphony Orchestra, Einzelunterricht zu nehmen. In England nämlich, da hat ihm sein Lehrer gesagt: «All or nothing. Great or dreadful.» Sein gesamtes Berufsleben lang hat Simon an den Zwischentönen gearbeitet.
Bei seiner Ankunft in Zürich, da hätte er als junger Kerl zwischen lauter reifen Herren in Jacket und Pullunder seinen Weg gesucht. Eine Verjüngung, eine Durchmischung habe zeitgleich stattgefunden mit dem Kulturwechsel unter den Dirigenten: Ein diktatorischer Führungsstil habe musikalischen und humanistischen Geistern wie David Zinman das Feld geräumt. Eine neue Geschichtsschreibung, die in der Zusammenarbeit mit Paavo Järvi resultiere, wie Simon sagt. Der nämlich verstehe es, die Menschen mit seiner lockeren, herzlichen Art zu Höchstleistungen zu motivieren. «Er holt die Musik förmlich aus uns heraus. Immer fordernd, nie erdrückend.»
London Philharmonic Orchestra, Concertgebouw-Orchester, BBC Symphony Orchestra: Die Liste führender Klangkörper, in denen Simon Styles sich als Tubist unterwegs immer wieder eingefügt hat, ist lang. Und doch schlägt sein Herz allein fürs Tonhalle-Orchester Zürich: «Bevor ich gehe, gebe ich nochmals alles für meine Orchesterfamilie», sagt er und übt und übt. Es sei ein Prozess, loszulassen. Bevor ihm das gelinge, investiere er seine Kräfte gegen die Gesetze der Natur: Die Lungen, die würden eben bei einem 25-Jährigen am besten arbeiten, an dieser Wahrheit führe nichts vorbei.
Ein Konzert zum Dienstjubiläum
«Wir sind hier ein eingeschworenes Team.» Von aussen, so höre er immer wieder, nehme man das Orchester als besonders lebendig wahr. Auch ihm gehe es so: «Eine Welle geht durchs Orchester, körperlich, klanglich. Manchmal bis hin zum Publikum.» Nein, es hätte für ihn keinen anderen Weg gegeben im Leben.
Simon stehen noch viele Konzerte mit dem Orchester bevor. Und Zeit für Kunst und Malerei, der er sich seit Kurzem widmet: Schritt für Schritt versuche er, sich zu verbessern. Es verhalte sich damit wie mit der Tuba, er poliere weiter, poliere und poliere, um dann zurückzuschauen und verwundert festzustellen, dass er ein Stück Weg gegangen sei.
Ein weiteres Hobby, dem sich Simon vermehrt widmen will: Den Rosen auf seiner Terrasse. Kommenden Sonntag gebühren die Rosen ihm, die Blechbläser des Orchesters geben ein Weihnachtskonzert, das Simon zum 40-jährigen Jubiläum gewidmet ist.
Just in dieser letzten Saison seines Berufslebens steht reihenweise Literatur auf dem Programm, das Tubisten bei ihren Probespielen bereithalten müssen. Mahler, Bruckner, Elgar. Als das Orchester neulich mit seinem Chefdirigenten Elgars Enigma-Variationen aufführte, sagte Simon: «Ich sitze da hinten und spiele dieses wunderbare Werk ein letztes Mal im Orchester. Da unten im Saal ist vielleicht jemand, der es zum ersten Mal hört. Wenn ein Funke der Freude und Liebe für diese Musik überspringt, dann gelingt mir das, wofür ich mein Berufsleben lange gearbeitet habe.»