Sein Klang ist eine Landschaft
Florian Walser ist Klarinettist im Tonhalle-Orchester Zürich. Und er ist Festivalveranstalter, Vater, Komponist, Gärtner, Hundehalter und noch ein paar Dinge mehr. Ihn fasziniert das Leben dort am meisten, wo es sich entwickelt, wo er gestalten kann. Auch in der Musik.
Holzlöffel klappern, Kuhglocken läuten, die Musikerinnen und Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich lachen gemeinsam mit sechstausend begeisterten Menschen im Publikum. London, BBC Proms im August 2014: Es ist David Zinmans letzter Einsatz als Chefdirigent des Orchesters. Diese Zugabe ist eines von mehreren Werken mit Bezug zur Schweizer Volksmusik, die er bei seinem Klarinettisten Florian Walser in Auftrag gegeben hat.
«Davids Abschied war der Höhepunkt meines bisherigen Wegs», sagt Florian während eines Telefonats mitten im Corona-Lockdown. Das Glücksgefühl, in dieser Menschenmenge die eigene Musik von seinem Orchester gespielt zu hören, könnte nicht weiter weg liegen. Zwar hat er mit den Kollegen seines Registers vor offenen Fenstern von Altersheimen musiziert, um Freude zu verbreiten. Aber die grosse Besetzung und das grosse Publikum sieht er noch in weiter Ferne. Mitten im Klang zu sitzen, ihn von innen hören, alle Stimmen und Stimmungen auf sich wirken zu lassen, damit müsse er sich wohl gedulden.
Schon Ende August hätte «Evviva i Soci» noch einmal zur Aufführung kommen sollen. Florian veranstaltet seit 2008 nämlich gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schmid-Kunz die Stubete am See, ein Festival für neue Schweizer Volksmusik, das alle zwei Jahre in Zürich stattfindet. Und sein Orchester hätte in dieser Ausgabe ein ganzes Konzertprogramm mit dem Titel Swiss-Roots in grosser Besetzung spielen wollen. Dieses Vorhaben ist dem Virus zum Opfer gefallen. Dennoch geht das Festival am 29. und am 30. August mit vier Konzertreihen über die Bühne (www.stubeteamsee.ch). Und im Oktober soll die erste Stubete am See in Sils stattfinden, der dortige Tourismusverein ist auf ihn zugekommen, man will das Erfolgsmodell auch im Oberengadin anbieten. Es ist jahrelange Organisationsarbeit, die hoffentlich trotz der aktuellen Lage wie geplant zur Umsetzung gelangen kann. Florian bezeichnet sein Engagement für die Volksmusik lachend als Liebhaberei, spielt er doch seit dreissig Jahren in einem Vollzeitpensum im Tonhalle-Orchester Zürich die zweite Klarinette und die Es-Klarinette. Er, heute 55-jährig, war nach vier Jahren am Konservatorium Zürich Student an der Musikakademie Basel, als er 1990 ins Tonhalle-Orchester Zürich aufgenommen wurde.
Klarinette ist auch schön
Das Orchester ist die Konstante in seinem Berufsleben, in dem er ansonsten lieber weiterzieht als ankommt, wie er erzählt. Er ist ein Gründer, ein Macher: So sind etwa die Chällerkonzerte in Dietikon, die Pfingstkonzerte und die Silvesterfeier im Kloster Fahr, manch ein Ensemble für neue Volksmusik wie das Schweizer Oktett und eben seine Stubete am See entstanden. Florian war Geschäftsführer des Zentrums für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik im Roothuus Gonten, langjähriges Mitglied der Jury des Schweizer Musikpreises, zwei Jahre davon als Präsident.
Ihn interessiert es, die Dinge zu entwickeln, sie möglich zu machen. Auch musikalisch: Die besten Chancen, ins Programm seiner Stubete aufgenommen zu werden hat, wer tief in der alten Volksmusik verwurzelt ist, dieser aber «unerhört neues Leben einzuhauchen weiss».
Florian sagt, er sei vielleicht kein typischer Musiker in einem Spitzenorchester: Die Perfektion sei nämlich nicht das, was ihn antreibe. So gern er die Klarinette hat, so gerne hat er auch die Instrumente seiner Kolleginnen und Kollegen. Er mag das Musikantische. «Mit Paavo Järvi haben wir einen Dirigenten, der mit uns aus dem Moment heraus musiziert. Eine sehr spannende Perspektive.» Als dieser vergangenen Herbst in Zürich sein Amt als Chefdirigent und Music Director antrat, hat Florian für ihn «Luegit vo Bärg und Tal» arrangiert, Orchester und Management haben ihn als grosser Chor begrüsst. Ein rührender Moment und genau das, was Florian eben an einfacher Volksmusik liebt: «Sie berührt.»
Wenn er Wörter wie «Musikantenstadel» oder «Ländler» hört, winkt er weit ab. Der Ländler habe lange die Szene bestimmt, aber da sei noch viel mehr. «Seit in den 30er-Jahren in Zürich diese Nähmaschine von Dreiklängen das Publikum zu begeistern begann, hatte daneben wenig Neues Platz.» Zu lange sei der Ländler omnipräsent gewesen in Radio und Fernsehen. Was der Verarmung der Volksmusik überdies zugespielt habe, sei das Akkordeon: Deckt es eben die bis dahin traditionellen Besetzungen alleine ab, was früher nur durch Stimmenvielfalt möglich war. Das Instrument an sich aber ist ihm sehr lieb, wie alle Instrumente.
Es ist kein Lebensgefühl, keine Szene, die Florian begeistert. Es ist die Musik und die Liebe zu den Landschaften, der sie entstammt. Begonnen hat das zeitgleich mit seinem Eintritt ins Orchester, was ein Zufall ist. Er hat mit Vätern von Freunden seiner beiden inzwischen erwachsenen Kinder Noten von alten Zürcher Tänzen zu spielen begonnen, die ihn fasziniert haben. Seither lässt ihn diese Begeisterung nicht mehr los.
Kitsch und Kunst und alles dazwischen
«Klassische Musik und Volksmusik, das sind eigenartige Begriffe, in denen ich nicht denke», derlei Schubladen helfen ihm beim Komponieren nicht. Seine humanistische Erziehung habe da bestimmt ihren Beitrag geleistet: Daheim in Dietikon, wo er aufgewachsen ist und vierzig Jahre lang gelebt hat, haben seine Eltern viel Kammermusik gemacht, das hat Florian und seine Geschwister geprägt. Damals spielte er noch Klavier, zur Klarinette kam er erst mit elf Jahren. Man ging ins Konzert und ins Theater, dachte in einem engeren Kunstbegriff als heute, wie er findet. Oft, wenn ihm etwas besonders gut gefiel, sprachen die Eltern von Kitsch. «Wenn Kitsch das Einfache, das Emotionale meinte, dann ist es doch vielmehr das Echte, das Authentische.»
Ohnehin sei die Unterscheidung in U- und E-Musik neu. Florian sieht Musik lieber grafisch auf einer Linie. Auf der einen Seite die ganz einfache Musik. Auf der Anderen die komplexe, polyphone Musik. Auf dieser Linie denkt er Klang. Auch das Folkloristische, das er so gerne hat, auch wenn ihm oft Klischees um die Ohren gehauen werden. «Volksmusik wurde zu allen Zeiten und überall politisch missbraucht. Man kratzte sich die Musik unter die Nägel und nahm sie sich für seine Zwecke. Aber das ist mir egal.» Denn was gebe es Kraftvolleres als einen Naturjodel aus dem Appenzell, weitergetragen von Bauerngeneration zu Bauerngeneration? Florian selbst wäre auch gerne Bauer geworden, lebt diese Leidenschaft, eine weitere seiner «Liebhabereien» im riesigen Garten seines Hauses in Rüti aus, das er mit seiner Partnerin und seinem Hund bewohnt. 1500 Quadratmeter, die gepflegt werden wollen. Davon könnte Florian lange schwärmen, wie von der Musik und ihrer Herkunft, die ihn in all ihren Facetten im Hier und Jetzt verortet. Aber auch Florians Tag hat 24 Stunden. Und wer weiss, welches Projekt er als nächstes anpacken wird?