«Wir alle müssen Wirbel machen»
Holly Choe ist Paavo Järvis Assistenzdirigentin. Er hat sich für sie entschieden, weil sie dank ihrer herausragenden musikalischen und kommunikativen Fähigkeiten eine Persönlichkeit mit viel Potential sei, wie er sagt. Zudem zielgerichtet, stets top vorbereitet.
Holly Choe will durch Leistung von sich reden machen, nicht durch ihr Geschlecht. Um diesem Wunsch gerecht zu werden, richtet sie ihr Verhalten auf dem Podest danach aus: Sie denkt über ihre Stimmlage und über ihr Styling nach, um möglichst nicht zu irritieren. Das sei der effizienteste Weg, auch heute noch, am Tag der Frau 2021.
Holly Choe, vor bald sechzig Jahren hat Sylvia Caduff als erste Frau das Tonhalle-Orchester Zürich dirigiert. Was hat sich für Frauen in der Welt der klassischen Musik seither verändert?
Wenn man bedenkt, wie rasch sich Technologie, Medizin und die Wissenschaft generell weiterentwickelt haben, muss man sagen, dass es mit der Gleichstellung schleppend vorangeht. Auch und vielleicht besonders in der klassischen Musik. In den letzten zehn Jahren ist dennoch vieles vorwärtsgegangen, gerade für Musikerinnen, die damals noch längst nicht in allen Spitzenorchestern musizieren durften. Heute sind viele Stellen weiblich besetzt, auch Führungspositionen, gerade bei den Streichern.
Wie sieht es bei den Dirigentinnen aus?
Es gibt heute viel mehr weiblichen Nachwuchs, und es gibt ein paar grosse Namen. Aber eine Studie, von der ich kürzlich gelesen habe, zählt unter 150 ernannten Musikdirektoren und Chefdirigenten gerade mal fünf Frauen.* Wir nehmen an Tempo auf, aber viel zu langsam, es gibt noch immer dieses riesige Ungleichgewicht.
Woran liegt das deiner Meinung nach?
Ein wichtiger Grund ist sicher, dass die meisten Entscheidungsträger männlich und einer älteren Generation angehörig sind. Und doch kenne ich viele Orchester, bei denen Geschlechterrollen kein Entscheidungskriterium sind. Frauen in Spitzenpositionen helfen, auch ausgeglichene Gremien und Jurys. Dass man in jüngster Zeit einen grossen Zuwachs an weiblichen Teilnehmerinnen bei Meisterkursen und Studienprogrammen sieht, wird helfen, das Ungleichgewicht zu beheben.
Lässt dieser grössere Pool an Nachwuchstalenten darauf hoffen, dass sich die Geschlechterfrage in einigen Jahren erledigt haben wird?
Dass mehr Frauen nachrücken, macht Mut. Wir brauchen Gleichgesinnte. Und Vorbilder. Wir müssen aber vorsichtig sein mit der Annahme, wir hätten es geschafft. Es liegt ein weiter Weg vor uns, gerade eben dort, wo das Eis dünner wird. Man muss Frauen daher unbedingt ermutigen.
Wie reagieren die Orchester auf dich als Frau?
Ich denke, den meisten Musikerinnen und Musikern ist es am wichtigsten, dass sie es mit Gleichgesinnten zu tun haben, die für die Sache brennen und unabhängig vom Geschlecht professionell arbeiten. Leute, die engstirnig sind, werden ihr Urteil abgeben, man kann nie alle für sich gewinnen. Es ist daher wichtig, dass man die Musik und nichts als die Musik im Kopf hat, der Geist ist unser stärkstes Kapital.
Du unterrichtest an der Zürcher Hochschule der Künste. Welchen Rat gibst du deinen Student*innen?
Bleib dich selbst. Das kann niemand so gut wie du. Und jeder riecht es sofort, wenn du vorgibst, jemand anderes zu sein. Meine Vorbilder und Mentorinnen, auch jüngere wie Karina Canellakis oder Ruth Reinhardt, leben mir vor, dass man mit musikalischem Fokus und klaren Zielen am weitesten kommt.
Wie wichtig sind persönliche Netzwerke oder Lobbies?
Sehr wichtig. Es ist zentral, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, die richtigen Menschen zu treffen. Das hat natürlich auch mit Glück zu tun. Dieses enorme Glück habe ich, ich darf bei einem der besten Lehrer, Johannes Schlaefli, lernen. Und mit einem der besten Dirigenten, Paavo Järvi, arbeiten. Ich habe viele Vorbilder und Menschen, die mir unterwegs geholfen haben und helfen, meine beiden laufenden Stipendiate brachten zwei davon mit sich, Péter Eötvös und Marin Alsop. Ein enormer Gewinn waren auch Meisterkurse bei prominenten Dirigentinnen wie Simone Young, Sian Edwards, Jessica Cottis und der wunderbaren Sylvia Caduff.
Pflegst du diese Kontakte?
Ja, wann immer es geht. Es gibt so viel zu lernen von Menschen, die Dinge bereits einige Schritte vor einem selbst erfahren haben. Mit solchen Mentorinnen und Mentoren in Kontakt zu bleiben, ist eine riesige Inspiration. Es macht mich demütig. Frau Caduff zum Beispiel durfte ich vor zwei Jahren in Luzern zum Kaffee treffen. Sie hat mir darüber erzählt, wie ehrgeizig sie sich durch ihre Karriere navigierte als eine der frühen Dirigentinnen. Kaum vorzustellen, wie ihre Welt in einer Gesellschaft ausgesehen haben muss, die damals noch viel verschlossener war. Sie hat unter Herbert Karajan als erste Frau die Berliner Philharmoniker dirigiert und als Leonard Bernsteins Assistentin bei den New York Philharmonics gearbeitet. Was für eine unglaubliche Reise das gewesen sein muss.
Du hast als Paavo Järvis Assistentin einen Mann als Mentor und Vorgesetzten. Welche Funktion kommt deiner Meinung nach Männern in der Geschlechterfrage zu?
Oh, eine sehr zentrale. Die Debatte um die Gleichstellung zwischen Mann und Frau, mehr noch, die Frage sozialer Gerechtigkeit, ist ja kein weibliches Thema, sondern eine Aufgabe der Gesellschaft. Frauenförderung muss auch Männersache sein. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wir werden nur dauerhafte Fortschritte machen, wenn auch Männer helfen, sich für diese gemeinsame Sache einzusetzen. Es ist sehr einfach, sich zurückzulehnen und die Frauen Wirbel machen zu lassen.
Was heisst das konkret?
Wir alle müssen jetzt Wirbel gegen die Ungleichheit machen. Ist es nicht verrückt, dass Frauen in unserer fortschrittlichen Gesellschaft streckenweise noch immer weniger Lohn erhalten als Männer für den selben Job? Leider geht die Ungleichheit noch viel weiter, dieses Gespräch könnte Stunden dauern. Wir müssen einander unterstützen, Mensch zu Mensch. Unsere Gesellschaft wächst, wenn wir für einander einstehen. Paavo weiss das. Ich habe mit ihm das Glück, einen Mentor zu haben, der sich für Gerechtigkeit stark macht.
Wie lernst du von ihm?
Einerseits in Gesprächen, er hilft mir beispielsweise bei Fragen nach meiner Repertoireliste oder Projekten, die gegenwärtig sinnvoll sein könnten, er erzählt von seinem Weg. Und andererseits natürlich über Beobachtung. Einen wie ihn bei der Probenarbeit zu begleiten, ist jede Minute lehrreich.
Du bist Musikdirektorin des Orchestervereins Zürich Wiedikon und des Alumni-Sinfonieorchesters der Universität St. Gallen. Kopierst du seine Strategien in deiner eigenen Arbeit?
Ich versuche es, ja. Die Art und Weise, wie er Kontraste herausarbeitet etwa, lange Phrasen, immer mit klarer Richtung. Meine eigenen Orchester, mit denen wir bereits einen gegenseitigen Respekt erarbeitet haben, sind der ideale Ort, um meinen Weg als Dirigentin in meiner eigenen Haut zu finden. Dazu muss ich verschiedenes ausprobieren und herausfiltern, was bei mir funktioniert und was nicht.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ich bewundere an Paavo sehr, wie geschmeidig er durch die Proben führt und Anspannungen elegant durchbricht, entweder mit Humor, oder, indem er alle auf eine musikalische Absicht fokussiert. Er sagt immer: «Darf ich vorschlagen, dass wir es so oder so versuchen? Könnten wir dies oder das ausprobieren?» Nie sagt er: «Ich will es so oder so.» Wenn jemand auf dem Podest zu oft von sich selbst spricht, dann kann der Eindruck entstehen, dass das Orchester für den Dirigenten oder die Dirigentin spielt, aber das ist falsch. Wir proben für die Musik, für die Komponistinnen und Komponisten, fürs Publikum. Er stellt die Mentalität der Gruppe über den diktatorischen Führungsstil, kommuniziert aber mit einer Kraft, die alle von einer gemeinsamen Richtung überzeugt. Alles in allem funktioniert das, was bei Paavo charmant wirkt, bei mir nicht zwingend. Ich brauche eine andere Tonalität. Jeder muss seine Tonalität finden.
Wie wichtig ist Autorität?
Autorität ist ein zentrales Thema. Dazu gehört, wie man sich neben der Bühne verhält, wie man spricht, in welcher Tonhöhe, in welcher Geschwindigkeit. Was man sagt, was nicht. Wie man sich bewegt. Paavo ist mir ein grosses Vorbild in der Authentizität seiner Führung. Er ist das beste Beispiel dafür, wie wichtig Autorität geblieben ist, wie sehr es sich aber verändert hat, sie zu leben. Sein demokratischer Stil war in der Generation über ihm wohl noch selten anzutreffen.
Glaubst du, härter oder fordernder sein zu müssen als Frau?
Zu Beginn meiner Karriere habe ich oft gehört, ich sei zu nett. «Sag ihnen, was du willst und zieh's durch. Gerade als Frau.» Das klingt vorderhand vielleicht sexistisch, aber mir hat es geholfen, mich auf meinen Kommunikationsstil zurückzubesinnen. Ich lege mein Verhalten auf dem Podest darauf aus, dass ich für meine Arbeit beurteilt werden.
Wie tust du das?
Ich für mich versuche, gewisse Tricks anzuwenden. Zum Beispiel hatte ich bis vor kurzem keine Ahnung, dass mein kalifornischer Akzent mich gegen Satzende höher sprechen lässt. Um Vorschläge nicht wie Fragen klingen zu lassen, musste ich hart daran arbeiten, diese Eigenschaft loszuwerden. Und weil ich primär als Musikerin und nicht als Frau wahrgenommen werden will, verzichte ich auf besonders weibliche Kleidung, auf viel Make-up oder auf Nagellack. Mit diesem Ansatz werden nicht alle einverstanden sein. Aber es ist nun eben noch immer verbreitet, Frauen für ihre Erscheinung zu kritisieren, statt danach zu fragen, was sie denken oder woran sie glauben.
Stört es dich nicht, dass du über deine Erscheinung mehr nachdenken zu müssen glaubst als deine männlichen Kollegen?
Doch, klar. Es ist traurig. Eine der Ungleichheiten, die sich hoffentlich mit der Zeit erledigen. In zwanzig oder eher dreissig Jahren, wenn ich fünfzig oder sechzig bin, dann können wir hoffentlich am Weltfrauentag nur noch über unsere Errungenschaften sprechen und müssen nicht mehr auf Ungleichheit aufmerksam machen. Dann sind weibliche Dirigentinnen vielleicht ganz einfach Dirigentinnen.