Interview: Der Flow mit den Nibelungen
«Star Wars» und «Herr der Ringe» wären ohne Filmmusikkomponist Gottfried Huppertz nicht denkbar, so Frank Strobel, der die Filmmusik zu Fritz Langs «Die Nibelungen» leiten wird. Im Gespräch mit Stefan Zweifel erläutert er, wie zentral die Rolle von Huppertz‘ Musik für dieses Filmepos ist.
Die Nibelungensage ist einer der grossen mythischen Stoffe der deutschen Literatur aus der Zeit um 1200 n.Chr. und dank Fritz Langs monumentalem Stummfilm von 1924 auch ein Meilenstein des deutschen Films. Ist das noch aktuell?
Das Erstaunliche ist: Wenn man sich diesen Film ansieht, der zwar mit den Idiomen der Zeit spielt, sei das nun Jugendstil oder Art déco, so hat er etwas komplett Zeitloses und steht völlig für sich universell im Raum.
Sie haben 2010 die Musik von Gottfried Huppertz auf die rekonstruierte Filmfassung abgestimmt und seither immer wieder aufgeführt. Was passiert mit uns, wenn wir den Film mit Live-Musik sehen?
Meine Erfahrung mit Aufführungen des Films mit Orchester ist: Die Zuschauer*innen geraten in einen Flow. Man verlässt die reale Welt und fällt in ein anderes Zeitempfinden, wie es für den Stummfilm typisch ist: Die Leute gehen ja nicht, sie schreiten, auch die Gesten haben einen ganz eigenen Rhythmus, man sieht gleichsam Fritz Lang, wie er zu jeder Armbewegung langsam zählte und den Takt angab. Gibt man sich der sinfonischen Musik hin, fällt man aus der eigenen Zeit heraus und gerät in eine Art Rausch.
In den 1960er-Jahren wurde Fritz Lang, der längst in Hollywood erfolgreich war, gefragt, ob er seinen legendären Stummfilm über die Nibelungen nicht noch einmal drehen würde – als Tonfilm. Das lehnte er ab, denn er meinte, das Pathos der mythischen Geschichte würde in gesprochener Sprache lächerlich klingen. War die Musik nicht auch schon pathetisch?
Ich würde es nicht Pathos nennen. Natürlich kommt Huppertz von seiner musikalischen Sprache her aus dem späten 19. Jahrhundert und öffnet das 20. Jahrhundert wie Korngold oder Zemlinsky. Er steht quasi dazwischen: Huppertz gehört nicht zur damaligen Avantgarde, sondern bleibt von seiner Tonsprache her eher retrospektiv, aber er erweitert sie, gerade was die harmonische Konzeption angeht. Er vollführt Wendungen, wie man sie auch von Richard Strauss kennt. Und diese Sprache ist nicht pathetisch. Nehmen wir das grosse Pendant, Wagners «Der Ring des Nibelungen», so ist das nicht Pathos, dafür ist sie zu empfindsam und zu diversifiziert in ihrer Gestaltung. Natürlich hat sie etwas Getragenes, gerade in den Massenszenen, in denen die einzelnen Menschen nur noch wie Ornamente wirken. Diese Kunst von Fritz Lang, Massen zu inszenieren, spiegelt sich in der musikalischen Ornamentik etwa in einer Szene im Dom wider. Aber auch dann ist die Musik von Huppertz weit weg von Wagner, auch wenn er die gleiche Technik verwendet …
… die Leitmotivtechnik …
… die Wagner bis zum Exzess getrieben hat. Diese übernimmt Huppertz und weist bestimmten Situationen, Personen und Orten Leitmotive zu, sei es durch Themen oder Instrumente. Denn im Stummfilm übernimmt die Musik die dramaturgische Funktion und erzählt die Geschichte. Und dank der Leitmotive kann sie auch auf Personen verweisen, die man gar nicht im Bild sieht.
War das schon im Drehbuch geplant?
Dazu muss man wissen, wie sie damals gearbeitet haben: Es war eine Art Triumvirat mit Gottfried Huppertz als Komponist, Fritz Lang als Regisseur und Thea von Harbou als Drehbuchautorin. Nachgewiesen ist, dass Huppertz die Musik nicht geschrieben hat, als der Film schon fertig war, wie es bis heute zumeist in der Postproduktion der Fall ist. Nein: Er war von Anfang an in die Entwicklung des Films einbezogen, und Thea von Harbou hat schon in den Drehbüchern der Musik ganz viele Notizen und Angaben zugeordnet. Das war revolutionär. Das hat natürlich zur Folge, dass die Musik anders mitgedacht wurde und weit weg ist von einer rein illustrativen Funktion.
Wenn die drei also bis morgens um 3 Uhr in Berlin zusammensassen, wurden Filmbild, Handlung und Musik bereits aufeinander abgestimmt?
Offenbar hat Fritz Lang beim Entwurf der Szenarien schon sehr musikalisch gedacht. Das zeigt ja schon die Betitelung in den beiden Teilen mit jeweils sieben Gesängen. Und bei ihrem nächsten Projekt, «Metropolis», teilte Lang den Film in drei Abschnitte: Auftakt, Zwischenspiel und Furioso. Er war da immer sehr nah dran an musikalischer Begrifflichkeit.
Also doch eine Art Gesamtkunstwerk?
Jedenfalls hat jedes Setting eine musikalische Farbe. Der Raum wird immer musikalisch und szenisch kreiert. Die Musik verleiht dieser an sich schon phänomenalen Bildgestaltung die Dreidimensionalität. Aus ihr entsteht diese faszinierende Tiefe, gerade in archaischen Szenen oder in den riesigen Räumen der Burgunder und den Kathedralen, die durch die Musik etwas Erhabenes erhalten und grösser wirken, als sie eigentlich sind.
Eine Art Überwältigungs-Ästhetik?
Überwältigend ist vieles an diesem Film. Es war damals bis dato der teuerste deutsche Film, der je gedreht worden war, eine Riesenproduktion.
War Huppertz da nicht überfordert?
Er war bereits ein toller Komponist, kam von der Oper und war selbst Sänger. Aber diesen Wurf konnte man wirklich nicht erwarten.
Was zeichnet für Sie diesen Wurf aus?
Schwierig zu sagen, er ist so vielfältig. Zunächst sicher die Melodiengabe, die Erfindung von Melodien – zum Beispiel die Melodie der Kriemhild ist so ungeheuer berückend und es charakterisiert sie auch so gut. Auch bei Hagen, ein ganz kurzes Motiv, aber es ist so prägnant, man ist in allen Kontexten sofort bei ihm, wenn es erklingt. Dann im ersten Teil des Films vor allem das Lyrische, im zweiten Teil – da sind ja Schlachten, Schlachten, Schlachten – verleiht die Musik trotz der Brutalität dem Ganzen etwas Flirrendes, überhöht die Ereignisse und blickt von einem anderen Ort aus auf das Getümmel.
Und wie blickt man von heute auf dieses Getümmel?
Die Themen selbst bleiben ja zeitlos aktuell. Politisch, gesellschaftlich, privat. Ästhetisch wiederum hat der Stummfilm, den man 1928 für tot erachtete, eine ganz eigenartige Kraft, einen faszinierenden Sog, der durch die musikalische Sprache von Huppertz so eindringlich wirkt. Und man kann nicht genug betonen: Er hat zwar in einer musikalischen Sprache gearbeitet, die schon älter war und ihre Gültigkeit hatte, aber sie funktioniert absolut. Und sie hat etwas Zeitloses. Wenn man statt den «Nibelungen» moderne Mythen nimmt, etwa «Star Wars». Die Musik von John Williams ist nach ähnlichen Prinzipien gebaut. Und da geht es um Science-Fiction. Oder man findet dieses Idiom des Mythischen und Dynastischen auch in «Herr der Ringe», gross-sinfonisch vertont. Das Idiom ist nicht weit von Huppertz entfernt. Aber er war wirklich der Erste. Er hat das initiiert und etabliert. Das ist rückblickend so erstaunlich und berauschend, wie der Flow, in den man beim Sehen und Hören des Films gerät.