Porträt

Rauschzustand im Haifischbecken

Andreas Janke ist einer der drei Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters Zürich, Professor an der Zürcher Hochschule der Künste und zudem gefeierter Kammermusiker. Disziplin, sagt er, stecke in seiner DNA. Nun aber hat sein Leben eine Wende genommen: Andreas will seine Prioritäten überdenken.

Melanie Kollbrunner

Wenn Andreas Janke morgens mit Bauchschmerzen aufwacht und sich den Abend herbeisehnt, dann ist wahrscheinlich Probespiel im Orchester, dann wird eine neue Stelle besetzt. Er ist an sich ein zuversichtlicher Mensch, dankbar für das Glück, sowohl seine Stelle als Konzertmeister als auch seine Professur in derselben Stadt ausüben zu können. Dankbar, die Liebe zur Musik mit seiner Frau teilen zu können und dankbar für seine Tochter, die mitten im Corona-Lockdown zur Welt kam.

Heute setzt er sich nach durchlebtem Probespiel zufrieden an die Herbstsonne im Rivington neben der Tonhalle Maag, man sei fündig geworden, ein neuer Kollege beginnt als erster Geiger. Andreas leidet mit den Kandidatinnen und Kandidaten mit, es bewerben sich jeweils Hunderte, eine kleine Auswahl darf vorspielen, hinter einem Vorhang, damit alle dieselben Chancen haben. Meistens erklingen vorerst ein paar Takte aus Mozarts Violinkonzert, in der zweiten Runde etwas Romantisches, dann Passagen aus Orchesterwerken. Die ganze Stimmgruppe des gesuchten Instrumentes ist jeweils da, von allen anderen Registern muss mindestens ein Viertel der Leute präsent sein. Dem Chefdirigenten gehört das Veto.

Konzentration und Hingabe

Andreas erinnert sich genau an den Frühlingsmorgen vor 15 Jahren, als er aus Salzburg anreiste, um sein eigenes Probespiel als Konzertmeister anzutreten. Er verliess das Hotel in der Innenstadt drei Stunden vor seinem Termin, ein Stadtplan führte ihn zum ersten Mal in die Tonhalle am See, die er weit vor allen betrat, um sich konzentriert einspielen zu können. Das Orchester kannte Andreas bis anhin nur über die Einspielung des Beethoven-Zyklus' mit David Zinman: «Was für ein Klang», habe er sich gedacht, wann immer er die Musik gehört habe. «Ein Orchesterspiel, wie ich es noch nicht kannte zuvor, diese unglaubliche Leichtigkeit und Frische in der Interpretation.» Von dieser Aufnahme her habe er den Eindruck der Musizierfreudigkeit des Orchesters erhalten, die er bis heute erlebe, die ihn mit Stolz erfülle.

Andreas, heute 37, spielte schon als 19-jähriger Student auf einer Stradivari, die ihm zur Verfügung gestellt wurde, war Preisträger etlicher namhafter Wettbewerbe und reiste auf Empfehlung seines Professors Igor Ozim nach Zürich, in dessen Meisterklasse er am Mozarteum in Salzburg lernte. Ozim hat bereits den damaligen Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters Zürich unterrichtet und empfahl Andreas, bei ihm vorzuspielen und um eine Einschätzung zu bitten.

Das tat er. Weil sowohl die erste als auch die zweite Konzertmeisterstelle vakant waren und ihm jede Erfahrung im Orchesterspiel fehlte, riet ihm sein Vorgänger, als zweiter Konzertmeister anzutreten. «Es ist ja schon ein Haifischbecken, so einen unergründeten Apparat zu lenken als schüchterner 22-Jähriger. Ich bin vom Naturell her nicht der Typ, der Führungsansprüche für sich markieren würde.» Und doch wurden die Haie seine Freunde und Andreas nach zwei Jahren erster Konzertmeister, sie nahmen wohl diese natürliche Autorität an, die er ausstrahlt, wenn er kerzengerade auf seinem Stuhl sitzt, das Orchester lenkt und Impulse weitergibt, im Ausdruck Konzentration und Hingabe. «Learning by doing», sagt er bescheiden. Die beiden Konzertmeister und die Konzertmeisterin assistieren sich gegenseitig, Andreas ist nach wie vor auch gerne zweiter Konzertmeister: Kopilot. Auch dies eine heikle Aufgabe, die Gespür für den Moment verlangt, Wachsamkeit und klare Signale, gleichzeitig Unterordnung.

In beiden Funktionen hört er zur Vorbereitung Aufnahmen, studiert Partituren. In welchem Moment führt man, mit wem tritt man wann in Kontakt? Andreas fasziniert die Welt des Orchesters jeden Tag: «In welchem Beruf tun hundert Leute genau gleichzeitig dasselbe, um etwas Schönes zu erschaffen?» Eine Solistenkarriere sei nie sein Wunsch gewesen, auch wenn er diese Rolle immer wieder einnimmt.

Sorgfalt in allen Schattierungen

An seiner Rolle als Konzertmeister mag Andreas jene Finessen, auf die es beim Brückenschlagen zwischen Dirigentin oder Dirigent und dem Orchester draufankomme. Den Spielraum, der diese Übersetzung bereithalte, man sage zurecht, dass die Notenschrift die ungenaueste Schrift sei. In Bruchteilen von Sekunden entscheiden, ob er das Tempo von vorne adaptiere oder auf die Bässe warte beispielsweise, wie alle mitnehmen, wann ziehen, wann nicht?: «Paavo Järvi ist jemand, der mit einem sehr klaren Konzept kommt, der aber eine grosse Geschicklichkeit darin hat, im Konzert spontan auf das einzugehen, was er angeboten bekommt. Paavo beharrt nicht auf dem, was er in der Probe herausgearbeitet hat." «Diese Agilität fordert von uns eine grosse Wachsamkeit. Es sind ja Nuancen, die Stimmungen prägen. Das ist als Konzertmeister aufregend und herausfordernd zu gleich.» Andreas' Augen spiegeln die Freude: «Wenn sich alle in die gleiche Richtung bewegen, wenn wir gemeinsam eine Welt erschaffen haben, dann entsteht etwas Rauschhaftes.»

«Der Künstler» sagt Andreas, «lebt von Neugier und Zweifel», ohne die beiden Begleiter sei der Weg zu Ende. «Man muss grösstmögliche Selbstzweifel mitbringen, wenn es um die Vorbereitung geht und grösstmögliches Selbstvertrauen auf der Bühne aufbringen. Das ist das Paradoxe, das treibt uns alle um." Gefragt danach, wie Andreas den Klang beschreiben würde, nach dem er strebt, sagt er: «Akkuratesse ist mir wichtig.» Sorgfalt und Gründlichkeit, Präzision, Perfektion. Er legt zwei Finger auf seine Stirn: «Hier beginnt die Arbeit.» Und dann ans Herz. Seine Stradivari hat inzwischen eine Violine von Carlo Bergonzi ersetzt, er mag die dunklere, fast bratschige Klangfarbe, wie er sagt. Sie sei ihm lieber als das Helle und Strahlende einer Stradivari.

Disziplin in der DNA

«Ich habe immer sehr hart gearbeitet vom Wunsch geprägt, besser zu werden auf meinem Instrument», sagt er, und er sagt es auch seinen Studentinnen und Studenten, dass sie sich auf den Moment konzentrieren sollen, keine Pläne schmieden, sondern an sich arbeiten. Er selbst kennt kein Leben ohne die Geige. Mehr noch, sein Weg sei vorbestimmt gewesen, lange bevor er auf der Welt gewesen sei. Disziplin stecke in seiner DNA. Einziges Laster: Gummibärchen.

Andreas ist 1983 als drittes von vier Kindern in eine deutsch-japanische Musikerfamilie hineingeboren worden, in ein Haus in Gröbenzell ausserhalb von München, gross genug, dass jedes der Kinder Platz zu Üben hatte. Die Eltern Pianisten, der Vater Professor an der Münchner Musikhochschule. Andreas' jüngere Schwester ist heute Konzertmeisterin in der Staatskapelle Berlin, der ältere Bruder Cellist in Saarbrücken, die ältere Schwester ist Konzertpianistin, sie macht auch viel Kammermusik und Korrepetition. Und einmal jährlich treffen sich die Geschwister im Heimatdorf, um ein Konzert zu geben. Die Kultur, die ihm seine Eltern mit auf den Weg gegeben haben, die Mentalität und die Haltung, die seinem Wesen zugrunde liegen: Andreas will sie seiner Tochter weitergeben. Seine Frau Yi-Chen LIN ist Taiwanesin, auch sie ist Musikerin, als Geigerin hat sie immer wieder im Tonhalle-Orchester Zürich ausgeholfen, als Dirigentin hat sie soeben eine neue Stelle angetreten: Sie ist Kapellmeisterin an der Deutschen Oper Berlin.

Für die Familie heisst das: Pendeln. Andreas' Welt hat sich verändert. Er tat nach der Geburt des Töchterchens das für ihn Unvorstellbare: Er hat einen ganzen Monat nicht auf seiner Geige gespielt. Das will er niemals wiederholen, derart hat er gelitten, als er wieder mit dem Üben begonnen hat. Und doch fragt er sich: «Weiterhin die Tage um acht Uhr beginnen und um 23 Uhr beenden?» Andreas will nachdenken. «Meine Prioritäten im Leben ändern sich sehr gerade. Ich habe in den letzten zehn Jahren gearbeitet wie ein Verrückter, habe mein Leben zwischen Orchesterarbeit und Proben, zwischeneigenen Engagements und dem Unterrichten jongliert.» Wie er seinen und den Stundenplan der Familie künftig gestalten möchte, ist offen. Nicht aber, dass die Musik Andreas' Leben ist.

veröffentlicht: 24.09.2020